Genfer Konventionen: Kriege setzen Völkerrecht unter Druck

    Genfer Konventionen:Kriegsregeln: Das Völkerrecht unter Druck

    Samuel Kirsch
    von Samuel Kirsch
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    Den Krieg menschlicher machen, das ist das Ziel der "Genfer Konventionen". Doch 75 Jahre nach deren Unterzeichnung steht das humanitäre Völkerrecht unter Druck. Eine Bilanz.

    Das World Press Photo des Jahres 2023 zeigt eine schwangere Frau, die bei einem Bombardement im russischen Angriffskrieg  getroffen wurde.
    In Kriegen wie dem russischen Angriff auf die Ukraine gelten eigentlich internationale Regeln für den Kampfeinsatz - wie steht es um diese? (Archivbild)
    Quelle: Evgeniy Maloletka/AP/World Press Photo Foundation/dpa

    Viele Millionen Tote weltweit, Kriegsverbrechen und Völkermord, unzählige Verwundete und Kriegsgefangene - der Zweite Weltkrieg war eine Art globale Nahtoderfahrung für die menschliche Zivilisation.
    Vier Jahre nach seinem Ende unterzeichneten 18 Staaten - darunter die Schweiz, Österreich und die USA - in Genf vier Abkommen, in denen sie sich verpflichteten, Regeln für die Kriegsführung einzuhalten, um Verwundete, Kriegsgefangene und die Zivilbevölkerung besser zu schützen. Besonders der Schutz von Zivilisten stellte einen Fortschritt gegenüber früheren internationalen Abkommen dar.
    Mittlerweile sind 196 Staaten Mitglied der Genfer Konventionen, viele Staaten haben auch drei spätere Zusatzprotokolle mit weitergehenden Vorgaben unterzeichnet.
    Zurück aus russischer Kriegsgefangenschaft
    Nach mehr als zwei Jahren freigelassen aus russischer Kriegsgefangenschaft: Der Ukrainer Mihailo Kruzhkov berichtet von seiner Leidenszeit.08.08.2024 | 2:33 min

    Ukraine, Gaza, Sudan: Genfer Konventionen unter Druck

    Den Krieg zu regeln, das klingt widersprüchlich. Schließlich will das Völkerrecht Krieg eigentlich durch ein grundsätzliches Gewaltverbot vermeiden. Die Realität in Geschichte und Gegenwart ist eine andere.
    Als eine Art Zugeständnis an diese Realität lassen sich die Genfer Konventionen verstehen. Sie sollen einen Mindeststandard an Humanität wahren, wenn Menschen in bewaffneten Konflikten gegen Menschen kämpfen.





    Die Regeln der Konventionen sind Grundlage für militärische Einsatzpläne, haben weltweit Eingang in die Ausbildung von Soldatinnen und Soldaten gefunden. Doch der Blick auf aktuelle Kriege wie in der Ukraine, in Gaza, aber auch im Jemen oder im Sudan zeigt, dass ihr Schutzversprechen längst nicht immer eingehalten wird.
    Die unzureichende Durchsetzung ist ein Grundproblem des humanitären Völkerrechts. Eigentlich verpflichten die Konventionen die Staaten dazu, gegen Verstöße vorzugehen. Doch nicht immer geschieht das.
    Israel hat wohl gegen humanitäres Völkerrecht verstoßen.
    Das US-Außenministerium hält es für möglich, dass Israel Völkerrechtsverstöße begangen hat. Ermittlungen im Konflikt-Gebiet sind jedoch schwierig.11.05.2024 | 0:27 min

    Internationaler Strafgerichtshof ahndet Kriegsverbrechen

    Das wohl schärfste Schwert, um schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen zu ahnden, ist das Völkerstrafrecht, das sich in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt hat.
    Schwerwiegende Verletzungen der Konventionen stellen Kriegsverbrechen dar, für die auch Einzelpersonen angeklagt und verurteilt werden können. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem seit 2002 tätigen Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu, der zuletzt etwa Haftbefehle gegen Mitglieder des russischen Regimes sowie gegen Hamas-Führer und einzelne israelische Politiker erlassen hat.
    Auch einzelne Staaten können nach dem so genannten Weltrechtsprinzip Kriegsverbrecher für Taten im Ausland verfolgen. Deutschland hat dies etwa mit Angehörigen des syrischen Assad-Regimes getan, die unter anderem wegen Folter von deutschen Gerichten verurteilt wurden.
    Den Haag, 20.05.2024: Internationaler Strafgerichtshof
    Als Reaktion auf den Krieg in Gaza hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Haftbefehle gegen Anführer der Hamas und Israels Ministerpräsidenten beantragt.20.05.2024 | 2:22 min
    Inwieweit es tatsächlich zu Prozessen gegen Einzelpersonen oder auch zu Beanstandungen von Verstößen durch Staaten kommt, ist aber abhängig von den politischen Verhältnissen.

    Anwalt: Schutz für Zivilbevölkerung im Krieg zu schwach

    Wolfgang Kaleck ist Rechtsanwalt und Generalsekretär der in Berlin ansässigen zivilgesellschaftlichen Organisation European Center for Constitutional and Human Rights, die sich für Menschenrechte und die Durchsetzung von Völkerstrafrecht einsetzt.
    Zum 75. Jahrestag der Genfer Konventionen zieht Kaleck eine gemischte Bilanz: "Insgesamt ist die Entwicklung des humanitären Völkerrechts, vor allem auch die jüngere Entwicklung des Völkerstrafrechts, schon positiv. Es wird auch dank des Engagements der Zivilgesellschaft mehr auf Kriegsgeschehen geschaut und auf die Durchsetzung von Standards gedrängt."

    Dass beispielsweise Folterer in Kriegsgebieten mit der Möglichkeit rechnen müssen, dafür belangt zu werden, ist ein Fortschritt. Aber wir haben nach wie vor Defizite bei der Durchsetzung der Regeln.

    Wolfgang Kaleck, Generalsekretär European Center for Constitiutional and Human Rights

    arlsruhe: Eine Person wird von einem Hubschrauber zu Polizeiautos geführt.
    Die Bundesanwaltschaft hat fünf mutmaßliche syrische Kriegsverbrecher festnehmen lassen. Sie sollen im Auftrag des Assad-Regimes im syrischen Bürgerkrieg Zivilisten getötet haben.03.07.2024 | 0:15 min
    Doch nicht allein die Durchsetzung der Regeln sei unzureichend, sondern auch die Regeln selbst zum Schutz der Zivilbevölkerung hält Kaleck für zu schwach, weil es zulässig sei, bei Angriffen auf militärische Ziele zivile Opfer in Kauf zu nehmen:

    Der schlimmste Begriff ist für mich der des 'Kollateralschadens'. Zivilisten dürfen im bewaffneten Konflikt getötet werden, wenn der militärische Vorteil überwiegt und der befehlshabende Kommandeur den voraussichtlichen Schaden als nicht unverhältnismäßig einschätzt.

    Wolfgang Kaleck, European Center for Constitiutional and Human Rights

    Fehlende Regularien zu KI-Einsatz im Krieg

    "Das ist ein Problem, das in Zukunft bei automatisierten Waffensystemen noch relevanter wird", so Kaleck weiter. Überhaupt sieht der Rechtsanwalt im Einsatz Künstlicher Intelligenz bei Waffensystemen eine wesentliche Herausforderung für die Zukunft.

    Drohnenkriege gibt es nun schon seit anderthalb Jahrzehnten, ohne ein angemessenes Regularium. Wenn künftig KI zum Einsatz kommt und militärische Entscheidungen automatisiert getroffen werden können, wächst der Bedarf nach Regulierung noch weiter.

    Wolfgang Kaleck, European Center for Constitiutional and Human Rights

    Soldat mit Drohne
    Drohnen und KI revolutionieren den Krieg in der Ukraine. Junge Unternehmer basteln in privaten Werkstätten an Waffen für die Front.24.07.2024 | 6:12 min
    Angesichts der Weltlage dürfte die Konjunktur für neue Regularien, die Staaten in ihren militärischen Handlungsspielräumen beschränken, aber nicht günstig sein. Das humanitäre Völkerrecht bleibt 75 Jahre nach Unterzeichnung der Genfer Konventionen eine Errungenschaft, die zu häufig eher einem Mahnmal gleicht als der Wirklichkeit.
    Samuel Kirsch ist Redakteur in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.

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