Verschleppt und zwangsverheiratet in den Ferien

    Wenn Schülerinnen verschwinden:Zwangsverheiratet in den Sommerferien

    Ninve Ermagan
    von Ninve Ermagan
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    Die Sommerferien stehen vor der Tür - und damit wächst auch die Gefahr für junge Mädchen, in ihrer Heimat zwangsverheiratet zu werden. Wenn ein Familienurlaub zum Alptraum wird.

    Muslimische Frau steht hinter Glas
    "An allen Schulen Berlins, die wir besucht haben, erhielten wir die Rückmeldung, dass Fälle von Zwangsverheiratungen vorlagen", erklärt Terre des Femmes.
    Quelle: Getty Images

    Wie in jedem Sommer fährt Samira (Name geändert) in den Ferien mit ihrer Familie in den Libanon, um ihre Verwandtschaft zu besuchen. Doch im Jahr 2018 sollte alles anders kommen. Ein Familienurlaub wird zum Alptraum. Denn die junge Palästinenserin wird gezwungen, zu heiraten. Nicht irgendwen - ihr eigener Cousin soll ihr Mann werden. In ihrem Umfeld sei dies zwar üblich, trotzdem habe sie diesen Gedanken lange Zeit verdrängt.
    Verraten und hilflos fühlt sich die junge Frau, denn vor Ort kann sie nicht mehr Nein sagen. Die Abiturientin wird gegen ihren Willen in eine "islamische Scharia-Ehe" gezwungen, so erklärt sie ZDFheute. Ihrem Cousin gelingt es durch die Heirat, nach Deutschland zu kommen. Dort erwartet sie in ihrer Ehe Missbrauch und Gewalt. Samira sieht als einzigen Ausweg: Untertauchen und Flüchten vor ihrer Familie.

    "Ich will keinen fremden Mann aus Pakistan heiraten"

    Gegen den Willen zwangsverheiratet zu werden - dieses Schicksal stand auch der 23-jährigen Anna bevor. "Mein Vater hat mir mit 14 gesagt, wie er mich verheiraten wird," erzählt die Studentin im Gespräch mit ZDFheute. Er werde ihr drei Bilder von Männern aus Pakistan zeigen und sagen: "Du darfst dir einen davon aussuchen." Erst an ihrem Hochzeitstag hätte sie den fremden Mann kennengelernt. Für Anna nichts Neues, denn so wurde auch ihre Mutter verheiratet.

    Post von Anna auf Instagram

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    Doch während ihrer Pubertät habe sich ihre Einstellung geändert. Sie fing an, sich für die deutschen Jungs in ihrer Klasse zu interessieren und merkte allmählich: "Ich will keinen fremden Mann aus Pakistan heiraten." Mit der Zeit wird auch Gewalt Bestandteil ihres Alltags. Um den Schlägen zu entkommen, beschließen die damals 16-jährige Anna und ihre Schwestern, aus ihrem streng-muslimischen Elternhaus abzuhauen.

    Umso länger ich bleibe, desto näher kommt der Tag, an dem ich zwangsverheiratet werde.

    Anna, Studentin

    Wie viele Frauen von Zwangsheiraten betroffen sind, ist schwer zu ermitteln und auch hier ist die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher, da sich die Betroffenen in sehr wenigen Fällen an die Behörden wenden. Eine auf das Jahr 2022 bezogene Umfrage des Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsheirat hat 1.380 Einrichtungen, darunter Beratungsstellen, Schulen, Jugendämter und andere Behörden, angeschrieben und 532 Rückmeldungen erhalten. Demnach sind im Jahr 2022 insgesamt 496 Fälle von geplanten, befürchteten oder vollzogenen Zwangsverheiratungen bekannt geworden. Von den Betroffenen oder Bedrohten waren 91 Prozent weiblich. 88 Prozent der vollzogenen Zwangsverheiratungen fanden im Ausland statt, größtenteils während der Ferien. Der Arbeitskreis fordert eine bundesweite Studie, die das Ausmaß von Zwangsverheiratungen abbildet, denn die letzte Studie bezieht sich auf das Jahr 2008.

    TdF-Referentin Myria Böhmecke macht deutlich, dass es sich bei Zwangsverheiratungen um "kein ausschließlich islamisches Phänomen" handele, sondern es Frauen aus "streng patriarchalen Kulturkreisen" betreffe. Auch Frauen aus osteuropäischen Ländern seien betroffen.

    Viele Frauen wollen über das Erlebte nicht sprechen, nicht einmal anonym. Zu groß ist die Angst, das Trauma wieder aufkommen zu lassen. "Ich möchte echt keine Sekunde meines Lebens mehr in dieses Thema investieren", antwortet eine junge Frau, die in den Ferien in ihre Heimat verschleppt wurde und lehnt ein Gespräch ab. Sie habe sich aus diesen Zwängen befreit und führe heute eine Beziehung mit einem deutschen Mann.

    Quelle Arbeitskreis Zwangsheirat, Terre des Femmes

    An mehreren Schulen Berlins Fälle von Zwangsheirat

    Vor den Sommerferien verschickt das Bezirksamt Neukölln schon seit Jahren ein Informationsschreiben mit Handlungsempfehlungen an Schulen. Nach den Ferien wird geprüft, ob alle Mädchen zurückgekehrt sind - doch manche Plätze bleiben leer.
    Um Schulen für das Thema Früh- und Zwangsverheiratung in den Ferien zu sensibilisieren, hat die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes die "Weiße Woche" ins Leben gerufen. Gemeinsam mit der Polizei besuchten die Aktivistinnen auch in diesem Jahr Berliner Schulen, um Aufklärungsarbeit zu leisten und verschiedene Beratungsstellen zu präsentieren.

    An allen Schulen Berlins, die wir besucht haben, erhielten wir die Rückmeldung, dass Fälle von Zwangsverheiratungen vorlagen.

    Myria Böhmecke, Terre des Femmes-Referentin

    Projekt Heroes
    Wann ist ein Mord ein Ehrenmord, wer sind die Täter und spielt der Ehrbegriff bei Jugendlichen heute überhaupt noch eine Rolle. 06.03.2020 | 15:30 min

    Terre des Femmes: Verschleppte Mädchen zurückholen sehr schwierig

    "Häufig werden Lehrkräfte allein gelassen und wissen nicht, wie sie in solchen Fällen handeln sollen". So habe eine Lehrkraft erzählt:

    Alle wissen, dass es passiert und alle schauen weg.

    Lehrerin

    Die Lehrerin half zwei minderjährigen Schülerinnen, einer Zwangsheirat zu entkommen. Daraufhin tauchten die Eltern der Mädchen vor der Schule auf, um die Lehrerin einzuschüchtern, erzählt Terre des Femmes.
    Seit 2017 ist eine Eheschließung in Deutschland unter 18 Jahren nicht mehr erlaubt. "Viele Schüler und Schülerinnen wissen das nicht", stellt die Frauenrechtsorganisation während ihrer Workshops fest. Aber:

    Wenn Mädchen ins Ausland verschleppt werden, ist es schwierig, sie zurückzuholen - selbst bei deutscher Staatsbürgerschaft.

    Myria Böhmecke, Terre des Femmes-Referentin

    Bei nicht-deutscher Staatsbürgerschaft sei dies "nahezu unmöglich". Böhmecke erklärt: "Einige Mädchen wissen, was sie in ihrer Heimat erwartet, glauben aber, vor Ort noch Nein sagen zu können."
    Deshalb sei es wichtig, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen - wie etwa Kopien des Ausweises anzufertigen, falls ein Verdacht auf Zwangsverheiratung vorliegt. Möglichkeiten, sich vor Ort Hilfe zu suchen, seien jedoch stark eingeschränkt, da Frauen in Ländern wie Afghanistan oder Iran "nicht allein reisen dürfen, das Land nicht verlassen können und es sehr wenige bis gar keine Schutzeinrichtungen vor Ort gibt."

    Ein zentraler Grund für Zwangsverheiratungen ist die "Sicherung der Familienehre und die Kontrolle der Sexualität – vor allem der Mädchen", erklärt die Rechtsanwältin und Imamin Seyran Ates. Weder der Islam noch alle anderen Weltreligionen erlauben Zwangsverheiratungen, erklärt die Frauenrechtlerin gegenüber ZDFheute.

    "In allen Religionen gibt es allerdings ein Verbot der außerehelichen Sexualität." Die Sexualität der Mädchen wird durch die Hochzeit kontrolliert und nur „innerhalb der Ehe geduldet“ - alles andere gilt als "Beschädigung der Familienehre", so Ates. "Diese Ehre befindet sich zwischen den Beinen aller weiblichen Mitglieder einer Familie". Zu solch einer patriarchalisch geprägten Kultur gehört zudem der Schutz der Jungfräulichkeit der weiblichen Familienmitglieder bis zur Eheschließung. Die jungfräulichen Töchter sind für solche Familien wichtige Außenschilde einer anständigen und angesehenen Familie.

    Aber auch die Sanktionierung für vermeintlich "falsches Verhalten" kann bei der Entscheidung, ein Kind schnell zu verheiraten, eine Rolle spielen. "Mädchen werden gegen ihren Willen verheiratet, wenn Eltern befürchten, dass die Familienehre durch den Kontakt mit Jungs, durch einen freizügigen Kleidungsstil oder den Wunsch nach Selbstbestimmung, verletzt werden könnte."

    Die Frau als Besitz ihrer Gemeinschaft

    Eine ehemalige BAMF-Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung sagt ZDFheute:

    Viele Geflüchtete wurden selbst in ihrer Heimat zwangsverheiratet und sagen stolz von sich: 'Das werden wir auch mit unseren Töchtern hier in Deutschland machen.'

    Ehemalige BAMF-Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung

    Auffällig sei dabei auch eine zutiefst frauenfeindliche Sprache: "Viele Mütter sagten: Ich werde meine Tochter verheiraten. Anstatt: "Meine Tochter wird heiraten", ergänzt die ehemalige Mitarbeiterin mit afghanischen Wurzeln, die anonym bleiben möchte. Auch die Frage: "Wem habt ihr die Tochter übergeben?" zeige, dass die Frau als Besitz ihrer Gemeinschaft betrachtet werde.
    Als Ware behandelt werden - davon hat sich Anna befreit. Heute möchte sie Vorbild sein für Betroffene und spricht auf Social Media offen über Probleme in ihrem Kulturkreis:

    Einige Mädchen schreiben mir, dass sie verschleppt und zwangsverheiratet worden sind. Andere erzählen mir, dass sie verheiratet werden.

    Anna

    Terre des Femmes erhalte oft die Rückmeldung in den Workshops, dass sich die meisten Mädchen den Bruch mit der Familie nicht trauen. Besonders Minderjährige könnten sich diesen Schritt nicht vorstellen, komplett auf sich allein gestellt zu sein. Anna hat diesen Schritt gewagt - und nimmt auch die Folgen in Kauf, sich ihr Leben lang vor ihren Eltern zu verstecken. Aber sie genießt ein unbezahlbares Gut: Ein Leben in Freiheit.
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