Bundesverfassungsgericht kippt neues Wahlrecht wohl in Teilen

    Möglicher Leak des Urteils:Kippt Karlsruhe das neue Wahlrecht teilweise?

    von Daniel Heymann und Samuel Kirsch
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    Schenkt man einem Leak Glauben, wird das Bundesverfassungsgericht die Wahlrechtsreform für teilweise verfassungswidrig erklären. Aufatmen dürften dann vor allem CSU und die Linke.

    Bundeskanzler Olaf Scholz spricht im Bundestag.
    Soll kleiner werden: der Deutsche Bundestag (Archivbild)
    Quelle: dpa

    "Der Zweite Senat wird am Dienstag, den 30. Juli 2024, um 10 Uhr sein Urteil verkünden", steht auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts. Und doch ist der Inhalt der Entscheidung zur geplanten Wahlrechtsreform der Ampel möglicherweise schon vorher bekannt. Bereits am Montagabend macht eine PDF-Version des Urteils die Runde. Wie es dazu kam: unklar.
    Das Gericht reagierte auf Nachfragen zur Authentizität des Dokuments zunächst nicht, der zugehörige Link wurde inzwischen deaktiviert. Sollte das PDF der tatsächlichen Entscheidung entsprechen, hätte der Senat einen Kompromiss in Urteilsform getroffen.
    Baden-Württemberg, Karlsruhe: Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts,(l-r), Astrid Wallrabenstein, Doris König (Vorsitzende) und Ulrich Maidowski, eröffnet die mündliche Verhandlung über die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition. Gegen die jüngste Reform des Bundestagswahlrechts, die seit Juni 2023 in Kraft ist, liegen gleich mehrere Klagen vor
    Seit Ende April prüft das Bundesverfassungsgericht die neue Wahlrechtsreform. Sowohl CSU als auch Linke zogen vor Gericht.23.04.2024 | 1:40 min
    Der erste Grundpfeiler der Reform, das Prinzip der Zweistimmendeckung, hätte demnach in Karlsruhe Bestand. Die zweite Säule, die Streichung der Grundmandatsklausel, nicht. Je nach Framing dürfen sich dann alle Beteiligten ein bisschen als Gewinner oder als Verlierer im Streit um die Wahlrechtsreform fühlen.
    Ein Überblick, was das mögliche Urteil bedeutet - und warum sich insbesondere Die Linke und die CSU freuen dürften:

    Offenbar unstrittig: Prinzip der Zweitstimmendeckung

    Seit Jahren haben nahezu alle Ansätze von Wahlrechtsreformen ein Ziel gemein: Der inzwischen auf 733 Abgeordnete angewachsene Bundestag soll verkleinert werden. Mit der Reform der Ampel sollte die Größe des Bundestags auf 630 festgeschrieben werden - und zwar über das Instrument der sogenannten Zweitstimmendeckung.
    Eine Grafik zeigt die Größe des deutschen Bundestags im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. Im Vergleich dazu: Das Europaparlament, die Abgeordnetenkammer in Brasilien und das Repräsentantenhaus in den USA:
    Danach ziehen Wahlkreiskandidaten nicht mehr automatisch in den Bundestag, wenn sie die Mehrheit der Erststimmen gewinnen, sondern nur dann, wenn ihre Partei über die Zweitstimme ein ausreichendes Sitzkontingent erhält. Es wäre also möglich, dass Kandidaten trotz Sieg im Wahlkreis nicht ins Parlament kommen. So wären 2021 etwa zahlreiche CSU-Abgeordnete nicht in den Bundestag eingezogen, obwohl sie ihren Wahlkreis gewonnen hatten.
    ZDF-Rechts-Expertin Sarah Tacke bei heute Xpress zur Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts über die Klagen gegen die Wahlrechtsreform.
    Der Plan der Ampel sei die "tiefgreifenste Veränderung des Wahlrechts", so ZDF-Rechtsexpertin Sarah Tacke.23.04.2024 | 1:05 min
    Schon in der mündlichen Verhandlung gab das Gericht zu erkennen, dass es diesem Teil der Reform relativ offen gegenübersteht. Mehrfach wurde betont, dass es dem Gesetzgeber im Grundsatz freistehe, eine Systementscheidung zugunsten der Verhältniswahl zu treffen - so wie er es mit dem Prinzip der Zweitstimmendeckung getan hat.

    Offenbar strittig: Grundmandatsklausel

    Dennoch reichte es für die Ampel in Karlsruhe offenbar nur zu einem Teilsieg. Die von ihr beabsichtigte Abschaffung der sogenannten Grundmandatsklausel scheinen die Richterinnen und Richter abgelehnt zu haben. Jedenfalls solange die Fünfprozenthürde besteht, müsse die Klausel als Korrektiv für den hierin liegenden Eingriff in die Gleichheit der Wahl erhalten bleiben.
    Das Bundesverfassungsgericht hat laut geleaktem Urteil die Streichung der sogenannten Grundmandatsklausel beanstandet. Doch was steckt hinter dieser Sonderregel, die lange kaum nennenswerte Bedeutung hatte, in Zukunft aber regelmäßig das Zünglein an der Waage bei Bundestagswahlen sein kann?
    Wie der Bundestag gewachsen ist
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    Es gibt nach dem Bundeswahlgesetz zwei Möglichkeiten, um in voller Fraktionsstärke in den Bundestag einzuziehen:
    • Der "klassische" Weg ist das Überspringen der Fünfprozenthürde bei den Zweitstimmen.
    • Die deutlich seltenere, aber - wie das Bundesverfassungsgericht in einer früheren Entscheidung betont - gleichberechtigte Alternative besteht darin, drei Direktmandate zu gewinnen, die Grundmandatsklausel.
    So konnte etwa bei der Bundestagswahl 2021 Die Linke nur über diese Regelung in voller Fraktionsstärke ins Parlament einziehen: Sie erzielte einen Zweitstimmenanteil von nur 4,9 Prozent, gewann aber drei Direktmandate (zwei in Berlin, eines in Leipzig).
    Bundesverfassungsgericht
    Besonders geschützt vor politischer Einflussnahme war das Bundesverfassungsgericht bisher nicht. Ampel und Union wollen das ändern und das Gericht stärker im Grundgesetz verankern.24.07.2024 | 2:27 min

    Was Konrad Adenauer mit der Grundmandatsklausel zu tun hat

    Wirklich relevant war die Grundmandatsklausel vor der letzten Bundestagswahl selten. 1994 profitierte von ihr die Vorgängerin der Linkspartei, die PDS, die damals 4,4 Prozent der Zweitstimmen und vier Direktmandate errang. Davor spielte die Bestimmung nur in den 1950er Jahren eine Rolle, damals allerdings prominent - und unter demokratischen Gesichtspunkten fragwürdig.
    Die unionsgeführte Regierung von Konrad Adenauer führte die Grundmandatsklausel zur Bundestagswahl 1953 ein, um der nationalkonservativen Deutschen Partei (DP) so das politische Überleben bei den Wahlen 1953 und auch 1957 zu sichern. In beiden Fällen konnte die DP bundesweit die Fünfprozenthürde nicht überwinden.
    Konrad Adenauer
    Aus dem Archiv: Konrad Adenauer - der erste Bundeskanzler.04.01.1966 | 32:32 min
    Die CDU verzichtete jedoch in einigen Wahlkreisen gezielt darauf, eigene Kandidaten aufzustellen, damit die DP diese gewinnen konnte. Durch die Wahlkreissiege konnte die DP bei beiden Wahlen in Fraktionsstärke ins Parlament einziehen - und jeweils eine Koalition mit dem Wahlsieger CDU bilden.

    Heutige Profiteure: Die Linke und die CSU

    Bliebe die Grundmandatsklausel dank Karlsruhe bestehen, dürften sich vorallem CSU und Linke freuen, die die Abschaffung dieser in seltener Einigkeit jeweils scharf kritisierten. Die Linkspartei wäre ohne die Grundmandatsklausel bei der letzten Wahl an der Fünfprozenthürde gescheitert, für die CSU reichte es nur ganz knapp.
    Ohne Grundmandatsklausel müssten beide Parteien in Zukunft um den Einzug ins Parlament bangen. Nun gilt sie aber - jedenfalls bis zu einer Neuregelung - wohl erst einmal weiter. Im Einzelnen wird das Gericht seine Entscheidung bei der Verkündung begründen. Und vielleicht gibt es dann auch Aufschluss zur offenbaren Vorabveröffentlichung.

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    Quelle: ZDF

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