Bundesverfassungsgericht kippt neues Wahlrecht in Teilen

    Wahlrechtsreform der Ampel:Karlsruhe will es allen recht machen

    von Daniel Heymann und Samuel Kirsch
    |

    Das Bundesverfassungsgericht hat die Wahlrechtsreform der Ampel überwiegend bestätigt. Der Bundestag wird somit künftig kleiner. CSU und Linke können aber dennoch aufatmen.

    Wahlrechtsreform: Bundestag zukünftig kleiner
    Ein Teil der Wahlrechtsreform der Ampel wurde durch das Bundesverfassungsgericht allerdings gekippt. Die Aufhebung der Grundmandatsklausel sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.30.07.2024 | 1:44 min
    "Der Zweite Senat wird am Dienstag, den 30. Juli 2024, um 10 Uhr sein Urteil verkünden" - so stand es seit Wochen auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts geschrieben. Und doch war der Inhalt der Entscheidung schon vorher bekannt, denn bereits am späten Montagabend machte eine PDF-Version des Urteils im Internet die Runde.
    In der Sache hat der Senat einen Kompromiss in Urteilsform gefunden. Je nach Framing dürfen sich alle Beteiligten ein bisschen als Gewinner oder als Verlierer im Streit um die Wahlrechtsreform der Ampel aus dem vergangenen Jahr fühlen.
    Bundesverfassungsgericht urteilt zu Wahlrechtsreform
    Das Bundesverfassungsgericht erklärt die Wahlrechtsreform der Ampelregierung zur Verkleinerung des Bundestages für verfassungsgemäß - allerdings mit einer wichtigen Einschränkung. 30.07.2024 | 4:03 min
    Ihr erster Grundpfeiler, das Prinzip der Zweistimmendeckung, hält in Karlsruhe. Die zweite Säule hingegen, die ersatzlose Streichung der Grundmandatsklausel, hat keinen Bestand - zur großen Erleichterung von CSU und der Linkspartei, deren Chancen bei der nächsten Bundestagswahl dadurch deutlich besser stehen.
    Ein Überblick über die Entscheidung, ihre Gründe und den Leak am Vorabend der Verkündung:
    Blick auf das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
    Das Bundesverfassungsgericht hat die Wahlrechtsreform der Ampel teilweise wieder aufgehoben.30.07.2024 | 0:31 min

    Der Bundestag wird kleiner

    Seit Jahren hatten nahezu alle Ansätze von Wahlrechtsreformen ein Ziel gemein: Der inzwischen auf 734 Abgeordnete angewachsene Bundestag sollte verkleinert werden. Mit der Reform der Ampel wird die Größe des Bundestags auf 630 festgeschrieben - und zwar über das Instrument der sogenannten Zweitstimmendeckung.
    Eine Grafik zeigt die Größe des Deutschen Bundestags im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. Im Vergleich dazu: Das Europaparlament, die Abgeordnetenkammer in Brasilien und das Repräsentantenhaus in den USA:
    Demnach ziehen Wahlkreiskandidaten nicht mehr automatisch in den Bundestag, wenn sie die Mehrheit der Erststimmen gewinnen, sondern nur dann, wenn ihre Partei über die Zweitstimme ein ausreichendes Sitzkontingent erhält. Es ist also möglich, dass Kandidaten trotz Sieg im Wahlkreis nicht ins Parlament kommen. So wären zum Beispiel 2021 zahlreiche CSU-Abgeordnete nicht in den Bundestag eingezogen, obwohl sie ihren Wahlkreis gewonnen haben.
    Hiergegen gibt es keine verfassungsrechtlichen Einwände. Die Richterinnen und Richter haben noch einmal klargestellt, was Artikel 38 des Grundgesetzes seit jeher vorgibt: Abgeordnete sind Vertreter des ganzen Volkes - und nicht nur eines Wahlkreises. Dem Gesetzgeber, so der Senat, steht es im Grundsatz frei, Elemente der Verhältniswahl im Wahlrecht stärker zu betonen als solche der Personenwahl - so wie er es mit dem Prinzip der Zweitstimmendeckung getan hat:

    Der Gesetzgeber nimmt damit seinen Gestaltungsauftrag für das Wahlrecht wahr.

    Auszug aus dem Urteil

    Damit hat das Gericht den Kern der Reform bestätigt.
    ZDF-Rechts-Expertin Sarah Tacke bei heute Xpress zur Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts über die Klagen gegen die Wahlrechtsreform.
    Der Plan der Ampel sei die "tiefgreifendste Veränderung des Wahlrechts", so ZDF-Rechtsexpertin Sarah Tacke.23.04.2024 | 1:05 min

    CSU und Linke atmen auf: Drei Direktmandate reichen weiterhin

    Dennoch reichte es für die Ampel in Karlsruhe nur zu einem Teilsieg. Die von ihr beabsichtigte Abschaffung der sogenannten Grundmandatsklausel ließen die Richterinnen und Richter nämlich nicht zu. Jedenfalls solange die Fünfprozenthürde in ihrer aktuellen Form besteht, müsse ein Korrektiv für den hierin liegenden Eingriff in die Gleichheit der Wahl erhalten bleiben - zum Beispiel in Form der Grundmandatsklausel.

    Es gibt nach dem Bundeswahlgesetz zwei Möglichkeiten, um in voller Fraktionsstärke in den Bundestag einzuziehen: Der klassische Weg ist das Überspringen der Fünfprozenthürde bei den Zweitstimmen. Die deutlich seltenere, aber - wie das Bundesverfassungsgericht betont - gleichberechtigte Alternative besteht darin, drei Direktmandate zu gewinnen. Diese zweite Option ist die sogenannte Grundmandatsklausel. Bei der Bundestagswahl 2021 konnte die Linke nur über diese Regelung in voller Fraktionsstärke ins Parlament einziehen: Sie erzielte einen Zweitstimmenanteil von nur 4,9 Prozent, gewann aber drei Direktmandate (zwei in Berlin, eines in Leipzig).

    Wirklich relevant war die Grundmandatsklausel vor der letzten Bundestagswahl selten. 1994 profitierte von ihr die Vorgängerin der Linkspartei, die PDS, die damals 4,4 Prozent der Zweitstimmen und vier Direktmandate errang. Davor spielte die Bestimmung nur in den 50er Jahren eine Rolle, damals allerdings prominent - und unter demokratischen Gesichtspunkten fragwürdig: Die unionsgeführte Regierung von Konrad Adenauer führte die Grundmandatsklausel zur Bundestagswahl 1953 ein, um der nationalkonservativen Deutschen Partei (DP) so das politische Überleben bei den Wahlen 1953 und auch 1957 zu sichern.

    In beiden Fällen konnte die DP bundesweit die Fünfprozenthürde nicht überwinden. Die CDU verzichtete jedoch in einigen Wahlkreisen gezielt darauf, eigene Kandidaten aufzustellen, damit die DP diese gewinnen konnte. Durch die Wahlkreissiege konnte die DP bei beiden Wahlen in Fraktionsstärke ins Parlament einziehen – und jeweils eine Koalition mit dem Wahlsieger CDU bilden.

    Der Senat betonte, dass die Fünfprozenthürde weiterhin ihren Zweck erfüllt.

    Sie verhindert eine Zersplitterung des Parlaments und sichert damit die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages.

    Vizepräsidentin Doris König in der Urteilsverkündung

    Bundesverfassungsgericht
    Besonders geschützt vor politischer Einflussnahme war das Bundesverfassungsgericht bisher nicht. Ampel und Union wollen das ändern und das Gericht stärker im Grundgesetz verankern.24.07.2024 | 2:27 min
    Aber: Eine Sperrklausel ohne Ausnahmen geht aus Sicht des Gerichts über diesen Zweck hinaus. Insbesondere mit Blick auf die CSU liegt das nahe, denn sie bildet ohnehin mit der CDU eine gemeinsame Fraktion. Die Grundmandatsklausel ist eine von mehreren Möglichkeiten, um die Fünfprozenthürde verfassungskonform auszugestalten.
    Darüber kann sich neben der CSU vor allem die Linke freuen. In seltener Einmütigkeit kritisierten beide Parteien die Streichung der Klausel scharf, von einem "Schurkenstück" und einem "Anschlag auf die Demokratie" war die Rede. Die Linkspartei wäre ohne die Grundmandatsklausel bei der letzten Wahl an der Fünfprozenthürde gescheitert, für die CSU reichte es nur ganz knapp.
    Wäre die Regelung gestrichen worden, müssten beide Parteien in Zukunft um ihren Einzug ins Parlament bangen. Nun gilt sie aber - jedenfalls bis zu einer Neuregelung - erst einmal weiter.
    Wie der Bundestag gewachsen ist

    ZDFheute Infografik

    Ein Klick für den Datenschutz
    Für die Darstellung von ZDFheute Infografiken nutzen wir die Software von Datawrapper. Erst wenn Sie hier klicken, werden die Grafiken nachgeladen. Ihre IP-Adresse wird dabei an externe Server von Datawrapper übertragen. Über den Datenschutz von Datawrapper können Sie sich auf der Seite des Anbieters informieren. Um Ihre künftigen Besuche zu erleichtern, speichern wir Ihre Zustimmung in den Datenschutzeinstellungen. Ihre Zustimmung können Sie im Bereich „Meine News“ jederzeit widerrufen.

    Was geschah am späten Montagabend?

    Damit verbleibt nur noch eine Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass die Entscheidung schon gestern Abend online war? Vizepräsidentin König nahm zu Beginn der Urteilsverkündung dazu Stellung - so kurz wie möglich: Man bedaure, dass eventuell "aufgrund eines technischen Fehlers" das Urteil schon vorab öffentlich einsehbar war. Es werde geprüft, wie es dazu kommen konnte.
    Sodann ging sie schnell über zum Inhalt - der vor Ort niemanden mehr überraschen konnte.
    Daniel Heymann und Samuel Kirsch arbeiten in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.

    Eine Person hält ein Smartphone in der Hand. Darauf ist der WhatsApp-Channel der ZDFheute zu sehen.
    Quelle: ZDF

    Sie wollen stets auf dem Laufenden bleiben? Dann sind Sie bei unserem ZDFheute-WhatsApp-Channel genau richtig. Egal ob morgens zum Kaffee, mittags zum Lunch oder zum Feierabend - erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt auf Ihr Smartphone. Nehmen Sie teil an Umfragen oder lassen Sie sich durch unseren Mini-Podcast "Kurze Auszeit" inspirieren. Melden Sie sich hier ganz einfach für unseren WhatsApp-Channel an: ZDFheute-WhatsApp-Channel.

    Mehr zu den Themen