KZ-Gedenkstättenleiter Wagner: AfD keine NSDAP 2.0, aber…

    Interview

    Buchenwald-Gedenkstättenleiter:Historiker: AfD keine NSDAP 2.0, aber…

    |

    Jens-Christian Wagner ist Leiter der Stiftung KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Das Landtagswahlergebnis bezeichnet er als Desaster für die Erinnerungskultur.

    Björn Höcke zeigt sich in Siegerpose.
    Nach den Erfolgen von AfD und BSW bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen drohen komplizierte Regierungsbildungen.03.09.2024 | 8:25 min
    ZDFheute: Nachdem zum ersten Mal seit 1945 eine als rechtsextrem eingestufte Partei bei einer Wahl in Deutschland stärkste Partei geworden ist, werden Parallelen zum Ende der Weimarer Republik gezogen. Zu Recht?
    Jens-Christian Wagner: Mit historischen Analogien muss man vorsichtig sein. Es gibt eine Menge Unterschiede zum Jahr 1933. Es gibt aber nicht ganz so viele Unterschiede zum Jahr 1924, als sich in Thüringen das erste Mal eine bürgerliche Minderheitsregierung von den Nazis tolerieren ließ und dafür große Zugeständnisse machen musste. Extrem rechtes, völkisches, nationalsozialistisches Denken konnte sich in Thüringen festsetzen. Und so kam 1930 auch die erste Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten und 1932 die erste von ihnen geführte Regierung in Thüringen zustande. Also Thüringen hat da tatsächlich eine gewisse Tradition.

    Thüringen, Nordhausen: Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, steht auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.
    Quelle: dpa

    ... ist ein deutscher Historiker. Er leitet seit Oktober 2020 die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Weimar. Zuvor war er Leiter der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen.

    ZDFheute: Ist ein Vergleich der AfD mit der NSDAP zulässig oder verharmlost er die Nationalsozialisten?
    Wagner: Sicherlich ist die AfD keine NSDAP 2.0. Wenn man das behaupten würde, würde man es sich zu einfach machen. Aber es gibt Parallelen. Aber in der AfD gibt es sehr viele Positionen, die ein autoritäres, antiliberales, antidemokratisches Gedankengut transportieren.

    Eine ganz wesentliche Gemeinsamkeit zwischen beiden Parteien ist auch das völkische Denken, die Überzeugung, dass Deutscher nur sein kann, wer deutschen Blutes ist.

    Jens-Christian Wagner

    Das ist genuin nationalsozialistisch, aber es gehört auch zur Programmatik der AfD.
    Mann im Auto
    Ein aufreibender Wahlkampf in Thüringen und Sachsen ist vorbei. Was denken die Menschen über den Erfolg der AfD? Wie ist die Stimmung nach den Wahlen vor Ort? Eine Reportage.04.09.2024 | 8:34 min
    ZDFheute: Teil Ihrer Arbeit als Gedenkstättenleiter ist die Aufklärung über die Gefahr, die von rechtsextremem Gedankengut ausgeht. Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus dem Wahlergebnis für diese Arbeit?
    Wagner: Zunächst ist es nötig, dass wir noch stärker auf die Anfangszeit des Nationalsozialismus schauen, ihn nicht nur von seinem Ende her denken, von den Leichenbergen in den befreiten Konzentrationslagern. Schauen wir auf die späten 20er, frühen 30er Jahre, auf den Tod der Demokratie im Frühjahr 1933, aber auch auf die Vorphase des Nationalsozialismus mit dem Erstarken völkischen Denkens in den 20er Jahren. Das ist wichtig, weil da können wir tatsächlich Parallelen zu heutigen Entwicklung nicht nur in Deutschland, sondern weltweit sehen.
    "Böse Bauten - Hitlers Architektur - Von Weimar bis zum Krieg": Das Goethe-Nationalmuseum von vorne.
    Vom Goethehaus bis zum KZ Buchenwald - Glanz und Elend lagen nah beieinander in der Klassik-Residenz. Hitler wollte Weimar zu einer Nazi-Musterstadt machen, und die Spuren findet man noch heute.24.08.2020 | 43:40 min
    ZDFheute: Sehr viele junge Menschen, Erstwählerinnen und Erstwähler, haben AfD gewählt. Die Kultur des Erinnerns scheint von Generation zu Generation schwächer zu werden. Haben wir uns in Deutschland zu sicher gefühlt?
    Wagner: Wir waren tatsächlich etwas besoffen von unserer Überzeugung, die Erinnerungsweltmeister zu sein. Unter der Oberfläche aber gibt es seit längerem eine breite Abwehrhaltung dagegen.

    Es gibt mittlerweile ja auch kaum noch Zeitzeugen. Da müssen wir über Begriffe wie Erinnerung nachdenken. Woran sollen sich 16-jährige Schülerinnen und Schüler denn erinnern?

    Jens-Christian Wagner

    Wenn die nach Buchenwald kommen und wir fordern sie auf, sich zu erinnern, überfordern wir sie. Und die moralische Aufladung einer solchen Aufforderung führt zu Abwehrreflexen.
    26.01.2024, Thüringen, Erfurt: Naftali Fürst (r), Shoah-Überlebender und Präsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos, und Georg Maier (l, SPD), Innenminister von Thüringen, stehen nebeneinander während eines Rundgangs in der Ausstellung «Zwangsarbeit im Nationalsozialismus» im Thüringer Landtag.
    Der Landtag von Thüringen hat im Januar der Opfer des Holocausts gedacht. Für die Überlebenden des Holocausts ergriff im Landtag der 91-jährige Naftali Fürst das Wort.26.01.2024 | 1:44 min
    ZDFheute: Wenn der Begriff Erinnerung als Leitbegriff untauglich wird, welche Alternative gibt es?
    Wagner: Unser Motto hier in der Gedenkstätte lautet Geschichte begreifen, für die Zukunft handeln. Es geht um Reflektion.

    Es geht nicht darum, irgendwelche Master-Narrative zu vermitteln, sondern wir wollen, dass die Menschen sich quellengestützt selbst mit der Geschichte auseinandersetzen, um dann ihre Schlüsse für ihr heutiges Leben daraus zu ziehen.

    Jens-Christian Wagner

    Wir müssen die Menschen mit einer wissenschaftlich basierten, historisch-politischen Bildungsarbeit so erreichen, dass sie von sich selbst heraus, nicht von uns aufoktroyiert, zu dem Ergebnis kommen, dass es wichtig ist für uns alle, uns für Demokratie, für Menschenrechte, für eine offene Gesellschaft einzusetzen.
    Das Interview führte Werner Doyé aus der Redaktion ZDF frontal.

    Eine Person hält ein Smartphone in der Hand. Darauf ist der WhatsApp-Channel der ZDFheute zu sehen.
    Quelle: ZDF

    Sie wollen stets auf dem Laufenden bleiben? Dann sind Sie bei unserem ZDFheute-WhatsApp-Channel genau richtig. Egal ob morgens zum Kaffee, mittags zum Lunch oder zum Feierabend - erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt auf Ihr Smartphone. Nehmen Sie teil an Umfragen oder lassen Sie sich durch unseren Mini-Podcast "Kurze Auszeit" inspirieren. Melden Sie sich hier ganz einfach für unseren WhatsApp-Channel an: ZDFheute-WhatsApp-Channel.

    Mehr zun Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen