Kann Tübingen die Fahrradstadt Deutschlands werden?
Fahrradstadt in Deutschland:Tübingen radelt voran
von Jakob Groth
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Lust statt Frust: Viele Städte wollen das Radfahren sicherer und angenehmer machen. Besonders ehrgeizig ist Tübingen - und lernt dabei von Fahrradstädten wie Utrecht.
Breite Straßen nur für Autos, Radwege, die im Nichts enden. Lange Zeit war Deutschland alles andere als ein Fahrradparadies. Doch immer mehr Städte und Gemeinden setzen aufs Rad.23.05.2024 | 29:45 min
Es liegt etwas in der Luft an diesem Morgen in Tübingen. Und zwar ein 17 Meter langes Brückenteil. Mit dicken Ketten hängt es an einem Schwerlastkran. Langsam gleitet das Teil zur Einhubstelle. Im Sommer soll sie fertig sein, Tübingens neue Radbrücke West. Mit ihren 330 Metern Länge überbrückt sie Bahnschienen und Autoverkehrsachsen, verbindet Stadtteile im Norden und Süden Tübingens. Als alle Schrauben festgezogen sind, leuchten die Augen von Stadtplanerin Katrin Korth:
Wettringen im Münsterland gilt als Vorreiter in Sachen Fahrradinfrastruktur. Köln hat hingegen noch aufzuholen und will bis 2035 fahrradfreundlicher werden. Der ADFC zeichnet jährlich die besten Fahrradstädte aus.24.04.2023 | 1:43 min
Heizspiralen im Asphalt - gegen Glätte im Winter
15 Millionen Euro lässt sich Tübingen das Mammut-Projekt kosten. Keine andere deutsche Kommune investiert aktuell mehr in den Radverkehr. Die schwäbische Stadt ergatterte dafür öffentliche Förder-Programme.
Zwei weitere Radbrücken sind schon fertig. Das Besondere: Unter dem Asphalt sind Heizspiralen verbaut. So müssen Radfahrende im Winter keine Glätte fürchten. "Außerdem wird die Betonbrücke dank der Heizung viele Jahre länger halten, zumal wir kein Streusalz verwenden müssen", erklärt Daniel Hammer, Verkehrsplaner in der schwäbischen Universitätsstadt.
Vieles haben sie hier neu gedacht: Bis 2030 soll ein durchgehendes Netz an Radwegen schnell und sicher durch die Stadt führen - wo möglich, abgegrenzt von den Autos, um Unfälle zu vermeiden. Signalwirkung hat die knallblaue Farbe, mit der Radwege markiert werden. Besonders auffällig: Das "Blaue Band" zieht sich als vier Meter breite Querverbindung durch die Stadt. In den nächsten Jahren soll es erweitert werden.
Viele Innenstädte setzen vermehrt auf Fahrradstraßen und verbannen den Autoverkehr. Dadurch werden Parkplätze rar und Staus nehmen zu. Steht die Verkehrswende in den Städten auf der Kippe?13.04.2024 | 4:43 min
Fahrradstadt Utrecht als Ziel
Um ihr Verkehrskonzept zu optimieren, reisen Stadtplanerin Katrin Korth und ihr Kollege Daniel Hammer nach Utrecht in den Niederlanden. Die morgendliche Rush-Hour am Bahnhof ist spektakulär. Wie Bienen schwärmen pro Minute über 100 Radler in das größte Fahrrad-Parkhaus der Welt - mit 12.500 Plätzen. Ein Parkleitsystem zeigt an, wie viele Plätze auf den Etagen noch frei sind.
So erklärt Stadtplaner Herbert Tiemens es seinem Besuch aus Tübingen. Der Fahrrad-Enthusiast ist ein weltweit gefragter Experte.
In den letzten 20 Jahren hat Tiemens in Utrecht viele Ideen umgesetzt: weniger Ampeln, dafür breite Radwege und kaum Begegnungen mit Autos, die im Zentrum höchstens zu Gast sind. "Anders als in vielen deutschen Städten würde ich hier auch mit Kindern fahren", sagt Katrin Korth, während sie und ihr Kollege Daniel Hammer kreuzungsfrei auf den typischen Holland-Rädern am Kanalufer entlang fahren.
Deutschland: 11 Prozent
Niederlande: 27 Prozent
Utrecht: 56 Prozent
Die 118 Kilometer „Radelautobahn“ von Kamp-Lintfort bis Hamm sollten eigentlich 2010 fertig sein. Doch bislang sind nur sieben Kilometer in drei Teilstrecken gebaut. Geht es in diesem Tempo weiter, wird die Strecke erst 2062 fertig.10.04.2024 | 2:00 min
Mit Fernradwegen auch 20 Kilometer pendeln
Eine eigene Infrastruktur für Fahrräder - das ist das Erfolgsrezept der Niederlande. Herbert Tiemens führt seinen Besuch auf einem Fernradweg aus der Stadt heraus. Trotz Kälte und Regen kommen fast sekündlich Berufspendler oder Schüler entgegen. "Dank der Fernradwege ist es für viele selbstverständlich, fünf, zehn oder 20 Kilometer mit dem Rad zu pendeln", so Tiemens. Die meisten fahren hier ein gemütliches Tempo. "Was das Radeln trotzdem schnell macht, ist das durchgängige Fahren, denn ich muss nur selten anhalten", bilanziert Katrin Korth am Ende des Besuchs.
Die Planungen stehen noch am Anfang, doch auch Tübingen will Fernradwege bauen. In Betrieb ist schon die neue Radstation am Bahnhof. Mit 1.100 Stellplätzen ist das Parkhaus deutlich kleiner als das in Utrecht. Aber das Prinzip ist dasselbe: Parken direkt am Gleis, kostenlos und videoüberwacht - ein wichtiger Baustein für die Verkehrswende. Inzwischen reisen erste Gemeinden nach Tübingen, um sich hier neue Lösungen für besseren Radverkehr zeigen zu lassen.
Radfahren boomt. Doch wohin mit dem alten Drahtesel, wenn das neue Fahrrad geliefert wird? Upcycling statt wegschmeißen ist die nachhaltige Alternative.10.03.2024 | 28:28 min