Landtagswahl in Thüringen: Ist die Demokratie in Gefahr?
Landtagswahl im Herbst:Testfall Thüringen: Demokratie in Gefahr?
von Melanie Haack und Peter Kunz
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Am 1. September entscheidet Thüringen, ob die erwiesen rechtsextremistische Landes-AfD in die Regierung kommt. Unwahrscheinlich ist das längst nicht mehr - ein Stimmungsbild.
Sehen Sie hier die Doku "Testfall Thüringen: Demokratie in Gefahr?"19.05.2024 | 20:00 min
Kann es passieren, dass ein Faschist in Deutschland nach der Macht greift und sogar eine Chance auf Erfolg hat? Björn Höcke, Chef der Thüringer AfD, gerade erst wegen Verwendung von NS-Rhetorik verurteilt, wird das bei der Landtagswahl in Thüringen am 1. September versuchen. Umfragen sehen ihn und seine erwiesen rechtsextremistische Landespartei mit Abstand vorn. Warum wollen so viele Thüringer ihr Kreuz ganz rechts machen?
"Es gibt mit Sicherheit kein Gen, was die Thüringer in sich tragen, das sie dann automatisch zu Anfälligen für Extremismus weder links noch rechts macht. Und doch erleben wir jetzt eine Situation, wo die Menschen das Vertrauen in die Institutionen, in die Demokratie zur Lösung ihrer eigenen Probleme zunehmend verloren haben."
So deutlich sagt das Stephan Kramer, Präsident des thüringischen Verfassungsschutzes. Das Amt, das Björn Höcke im Falle eines Wahlsieges der AfD sofort stutzen möchte.
... von Melanie Haack und Peter Kunz läuft am Sonntag, den 19.05.2024, um 19:10 Uhr im ZDF und ist auch in der ZDF-Mediathek abrufbar.
Viele Thüringer haben Vertrauen in parlamentarisches System verloren
Thüringen steckt seit den letzten Landtagswahlen in einer komplizierten politischen Situation: Eine Minderheitsregierung, Mehrheiten zu finden, bleibt selbst bei wichtigen Themen oft schwierig, verhärtete Fronten im Landtag. Und die letzte Wahl endete mit einem demokratischen Sündenfall.
Die AfD könnte bei den diesjährigen Landtagswahlen in Thüringen stärkste Kraft werden - und wird dort als rechtsextrem eingestuft.18.05.2024 | 2:41 min
Mit den Stimmen der AfD hatte sich 2020 der FDP-Mann Thomas Kemmerich zum neuen Regierungschef wählen lassen, Björn Höcke hatte einen Scheinkandidaten ins Rennen geschickt. Tage später trat Kemmerich deshalb unter Druck vor allem aus der Bundespolitik zurück. Die damalige Bundeskanzlerin Merkel forderte aus Südafrika, dass die Ministerpräsidentenwahl rückgängig gemacht werden müsse.
Vor Studierenden der Fachhochschule Erfurt markiert Verfassungsschutzchef Kramer dies als historische Wassermarke für den Vertrauensverlust in das parlamentarische System: "Das hängt uns bis heute in Thüringen und darüber hinaus furchtbar nach - bis zu der Tatsache, dass viele sagen, 'wir haben jetzt verstanden, wie Eure Ansicht von Demokratie ist. Wir müssen so lange wählen, bis euch das Ergebnis gefällt'."
Thüringer: "Werde definitiv AfD wählen"
Nicht nur die Glaubwürdigkeit der Politik ist angekratzt. Offenbar auch der Glaube an Parteien und dass sie in Zeiten von Krisenfrust und Zukunftsangst noch Problemlösungen bieten können. In der Kleinstadt Schleusingen im Thüringer Wald wird ein junger Mann deutlich:
"Ich bin Forstarbeiter. Wenn die Gastronomie 'den Arsch hochgeht', wenn der Mittelstand kaputtgeht … deshalb werde ich definitiv AfD wählen. Ich bin nicht rechts, aber ich werde in eine rechte Ecke gestellt, und das stört mich wirklich. Die Grünen wollen grad alle anderen Länder mit Waffen versorgen. Nein, das brauche ich einfach nicht."
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Lage in Ostdeutschland hat sich zugespitzt
Da hat sich in Thüringen, wie vermutlich in ganz Ostdeutschland, etwas zugespitzt. So formuliert es Stephan Kramer im Audimax in Erfurt, wo Studierende und Hochschulleitung zur Vorlesungsreihe unter dem Titel "Stärkung der Demokratie" eingeladen haben.
Kramer erklärt: "Die Wut, die Angst, die Sorgen - das, was wir an Radikalisierung in Teilen der Gesellschaft ganz besonders in Ostdeutschland erleben, das ist das Ergebnis, was wir 30 Jahre nicht gesät haben - aber heute entsprechend ernten. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung weniger Gehalt, 30 Jahre danach weniger Rente. Wir haben jetzt die letzte Generation, die in der DDR-Zeit noch gearbeitet hat, die nun Rente kriegen und eigentlich postwendend in die Sozialhilfe gehen.
Stimmung in Thüringen kippt nach rechts
Die Stimmung kippt nach rechts, auch wenn 70 Prozent der Thüringer - und damit die große Mehrheit - laut Wahlumfragen ihr Kreuz nicht bei der AfD machen würden. Außerhalb der größeren Städte allerdings finden sich ganze Landstriche in Thüringen, in denen Rechtsextremismus wie Gift in den Alltag gesickert ist.
Viele in Thüringen kämpfen - auch auf kommunaler Ebene - gegen einen möglichen Rechtsruck. 08.01.2024 | 2:17 min
Das macht auch den Teilnehmern am ersten Treffen des neugegründeten Bündnisses für Demokratie in Schleusingen Sorge: "Was ich so erschreckend finde, ist, dass es mittlerweile salonfähig geworden ist, rechtsextrem zu sein und das zu wählen - und man ist mittlerweile in der Minderheit, wenn man sich dagegenstellt", klagt eine junge Frau. Und eine Mutter fügt an:
Bündnis versucht Tendenzen entgegenzuwirken
Das Bündnis für Demokratie will vor den Landtagswahlen Aufklärung betreiben und in den kommenden Monaten mit Aktionen Zeichen gegen Demokratiemüdigkeit setzen.
Mitorganisator Reinhard Hotop, nach der Wende im Neuen Forum engagiert, nennt aus seiner Sicht tieferliegende Ursachen für die Stimmung im Osten der Republik: "Um Demokratie erfolgreich zu gestalten, brauche ich auch bestimmte Kenntnisse und muss es einüben. Dieses Grundhandwerkszeug ist hier aber nie trainiert worden. Es wurde durchregiert - oftmals nach der Wende immer mit absoluten Mehrheiten."
"Die haben dann in ihren neu erworbenen Funktionen im Grunde genommen das weitergemacht, was sie zu DDR- Zeiten erlebt haben: Von oben her durchregieren. Ich bin jetzt gewählt, und nun wird vier Jahre lang gemacht, was ich sage. Das ist das demokratische Verständnis, das hier über viele Jahre und Jahrzehnte vorgeherrscht hat."
Thüringen - ein Testfall für die Demokratie
Nachholbedarf in demokratischer Praxis oder eingeübter Hang zum Autoritären? Jede These für sich allein reicht nicht aus, um zu erklären, warum eine vom Verfassungsschutz als erwiesen extremistisch eingestufte Partei mit einem Rechtsextremisten an der Spitze offenbar gute Chancen bei den kommenden Landtagswahlen in Thüringen hat.
Björn Höcke darf man sogar gerichtsfest Faschist nennen. Einst zog der frühere Geschichtslehrer aus Hessen nach Thüringen, wo das politische Klima für seine Programmatik möglicherweise damals schon günstiger einzuschätzen war.
Testfall für die Demokratie war Thüringen schon vor 100 Jahren. 1924 ließ sich hier eine Regierung mit den Stimmen von Nationalsozialisten wählen. Und bald danach bekamen die Nazis - ebenfalls in Thüringen - ihren ersten Minister und damit das erste Regierungsamt in Deutschland.