Beihilfe zu Massenmord: Urteil gegen KZ-Sekretärin bestätigt

    Urteil des Bundesgerichtshofs:KZ-Sekretärin: Schreibkraft und Mordgehilfin

    von Daniel Heymann und Fabian Medler
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    Irmgard F., inzwischen 99 Jahre alt, arbeitete als Stenotypistin im KZ Stutthof. Für ihre Arbeit ist sie nun in letzter Instanz wegen Beihilfe zum Mord schuldig gesprochen worden.

    Angeklagte Irmgard F.
    Angeklagte Irmgard F.
    Quelle: dpa

    Es könnte der letzte Prozess gegen ehemalige KZ-Mitarbeitende gewesen sein. Sowohl Opfer als auch Täter werden immer weniger. Die Verbliebenen sind allesamt hochbetagt und häufig nicht mehr verhandlungsfähig. Und doch klärte der Bundesgerichtshof in Leipzig heute Grundsätzliches, als er die Revision von Irmgard F. verwarf und die seinerzeit heranwachsende Angeklagte zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilte.
    Der Fall zeigt: Die juristische Aufarbeitung des nationalsozialistischen Massenmords, so mühsam und kleinteilig sie sein mag, kann und muss der Rechtsstaat leisten. Inhaltlich ist die Entscheidung wenig überraschend, denn Mord, ebenso wie die Beteiligung daran, verjährt nach dem Strafgesetzbuch nicht. Die aktive Erinnerung aber an die Gräueltaten der Nazi-Herrschaft und an das dadurch verursachte unermessliche Leid beginnt - fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - teilweise zu verblassen. Urteile wie das heutige halten sie wach.
    Urteil im Prozess gegen frühere Sekretärin im KZ Stutthof
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    Unverzichtbarer Teil der Tötungsmaschinerie

    Irmgard F. war Sekretärin des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe. Von 1943 bis 1945 organisierte sie allein seinen gesamten Schriftverkehr, tippte unter anderem die Listen mit den Namen der nach Auschwitz Deportierten ab.
    Der Bundesgerichtshof sah es nun als erwiesen an, dass Irmgard F. eine elementare Rolle innehatte - auch als Stenotypistin. Die Verteidigung hatte argumentiert, die Sekretärin sei nicht mit den SS-Wachmännern in den Lagern vergleichbar. Doch die Richterinnen und Richter kommen zu einem anderen Ergebnis. Ihrer Ansicht nach ist es möglich, einer Schreibkraft die Mordtaten zuzurechnen:

    Es kommt nicht darauf an, ob ein Gehilfe Uniform trägt. In einer bürokratisch verfassten staatlichen Tötungsmaschinerie ist die Tätigkeit einer Bürokraft von zentraler Bedeutung für diese Maschinerie.

    Gabriele Cirener, Vorsitzende Richterin

    Richterin: Irmgard F. war "zentrale Schnittstelle"

    So sei Irmgard F. fast zwei Jahre lang durchgängig die "zentrale Schnittstelle" zum Lagerleiter gewesen, setzte als "gehorsame Untergebene" seine mündlichen Weisungen in die Schriftform um, habe dadurch physische und psychische Beihilfe geleistet. Dass ihr in dieser Rolle die unvorstellbaren Grausamkeiten von Stutthof verborgen blieben, konnte das Gericht nicht glauben.
    Graphic-Novel-Motiv, das einen gealterten Adolf Hitler in Militärmantel und -mütze zeigt.
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    Von ihrem Platz habe die Angeklagte das Lager weitflächig überblicken können. Sie habe die Gefangenen in ihrem teils katastrophalen Gesundheitszustand erkannt und auch den Schornstein des Krematoriums gesehen. Schließlich unterhielt sie eine enge Beziehung zum Lagerkommandanten, war in dessen Gedanken stets eingeweiht - oder in den Worten des Gerichts:

    Sie gehörte zum inneren Kreis des Vertrauens.

    Gabriele Cirener, Vorsitzende Richterin

    Die Vorsitzende Richterin machte in der Verkündung auch deutlich, dass die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen lange nur unzureichend betrieben wurde. Viele Jahre habe der Rechtsstaat nicht nachvollziehbare Milde walten lassen, mehrfach beschrieb sie das Vorgehen als "fehlgeleitete Verfolgungspraxis". Erst in der jüngeren Vergangenheit habe ein Umdenken eingesetzt.

    Zeitzeugen als Nebenkläger: "Wichtig für zukünftige Generationen"

    Damit richtete sie sich vor allem an die Nebenkläger. Unter ihnen befinden sich ehemalige Insassen von Stutthof - so wie Josef Salomonovič, der noch ein kleiner Junge war, als die Nazis ihn mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder in das Konzentrationslager deportierten. Sein Vater wurde in Stutthof ermordet. Seine Mutter, sein Bruder und er überlebten mehrere sogenannte Todesmärsche.
    Auschwitz-Prozess
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    Bis heute fällt es Josef Salomonovič schwer, über diese Zeit zu sprechen. Trotzdem hat der 86-Jährige im Prozess gegen Irmgard F. als Zeuge ausgesagt.
    Es gehe ihm dabei nicht um Genugtuung, sagte er vor der Entscheidung im Interview mit dem ZDF.

    Ob sie verurteilt wird oder nicht, ich werde trotzdem schlecht schlafen. Das habe ich der Dame auch gesagt.

    Josef Salomonovič, Zeuge

    Letztlich betreffe der Prozess nicht so sehr ihn persönlich, sondern den deutschen Staat:

    Dass ein Gericht sich damit befasst, ist wahnsinnig wichtig, auch für die zukünftigen Generationen.

    Josef Salomonovič, Zeuge

    "Das Dritte Reich vor Gericht: Die Anklage": Eröffnung des Hauptkriegsverbrecherprozesses in Nürnberg 1945.
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    Versuch, historischer Verantwortung gerecht zu werden

    Diese sollen wissen: Es gab eine Aufarbeitung - und zumindest den Versuch, der historischen Verantwortung gerecht zu werden. Und tatsächlich: Das Interesse an der heutigen Urteilsverkündung war immens, der Senat zog deshalb in den Großen Saal des Bundesverwaltungsgerichts um, um z.B. Schulklassen ausreichend Platz zu bieten.
    Das Gericht erklärte dementsprechend ruhig und auch für Laien verständlich die Begründung seiner Entscheidung. Und - der gesellschaftlichen Bedeutung dieses Urteils erkennbar bewusst - schloss die Vorsitzende die Verkündung mit einem Zitat von Fritz Bauer, der als Generalstaatsanwalt die prägende Figur zur Aufklärung der NS-Verbrechen in der Nachkriegszeit war:

    Man muss sich bewusst machen, dass diese Prozesse nicht der Rache und Vergeltung dienen. Für uns ist hier der Gedanke entscheidend, die Vergangenheit durchsichtig zu machen und einen Beitrag zur deutschen Geschichte zu leisten.

    Fritz Bauer

    Daniel Heymann und Fabian Medler sind Redakteure in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.

    Eine Person hält ein Smartphone in der Hand. Darauf ist der WhatsApp-Channel der ZDFheute zu sehen.
    Quelle: ZDF

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