Beihilfe zu Massenmord: Urteil gegen KZ-Sekretärin bestätigt
Urteil des Bundesgerichtshofs:KZ-Sekretärin: Schreibkraft und Mordgehilfin
von Daniel Heymann und Fabian Medler
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Irmgard F., inzwischen 99 Jahre alt, arbeitete als Stenotypistin im KZ Stutthof. Für ihre Arbeit ist sie nun in letzter Instanz wegen Beihilfe zum Mord schuldig gesprochen worden.
Auch eine Sekretärin kann Beihilfe zum Massenmord leisten. Das bestätigte der Bundesgerichtshof in seinem Urteil und verwarf die Revision der 99-jährigen Irmgard Furchner. 20.08.2024 | 2:40 min
Es könnte der letzte Prozess gegen ehemalige KZ-Mitarbeitende gewesen sein. Sowohl Opfer als auch Täter werden immer weniger. Die Verbliebenen sind allesamt hochbetagt und häufig nicht mehr verhandlungsfähig. Und doch klärte der Bundesgerichtshof in Leipzig heute Grundsätzliches, als er die Revision von Irmgard F. verwarf und die seinerzeit heranwachsende Angeklagte zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilte.
Eine 99-Jährige wurde wegen Beihilfe zum Mord in der Nazi-Zeit verurteilt - zu Recht. Es gibt gute Gründe, weshalb Mord nicht verjährt.
von Sarah Tacke
Kommentar
Der Fall zeigt: Die juristische Aufarbeitung des nationalsozialistischen Massenmords, so mühsam und kleinteilig sie sein mag, kann und muss der Rechtsstaat leisten. Inhaltlich ist die Entscheidung wenig überraschend, denn Mord, ebenso wie die Beteiligung daran, verjährt nach dem Strafgesetzbuch nicht. Die aktive Erinnerung aber an die Gräueltaten der Nazi-Herrschaft und an das dadurch verursachte unermessliche Leid beginnt - fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - teilweise zu verblassen. Urteile wie das heutige halten sie wach.
Unverzichtbarer Teil der Tötungsmaschinerie
Irmgard F. war Sekretärin des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe. Von 1943 bis 1945 organisierte sie allein seinen gesamten Schriftverkehr, tippte unter anderem die Listen mit den Namen der nach Auschwitz Deportierten ab.
Der Bundesgerichtshof sah es nun als erwiesen an, dass Irmgard F. eine elementare Rolle innehatte - auch als Stenotypistin. Die Verteidigung hatte argumentiert, die Sekretärin sei nicht mit den SS-Wachmännern in den Lagern vergleichbar. Doch die Richterinnen und Richter kommen zu einem anderen Ergebnis. Ihrer Ansicht nach ist es möglich, einer Schreibkraft die Mordtaten zuzurechnen:
Richterin: Irmgard F. war "zentrale Schnittstelle"
So sei Irmgard F. fast zwei Jahre lang durchgängig die "zentrale Schnittstelle" zum Lagerleiter gewesen, setzte als "gehorsame Untergebene" seine mündlichen Weisungen in die Schriftform um, habe dadurch physische und psychische Beihilfe geleistet. Dass ihr in dieser Rolle die unvorstellbaren Grausamkeiten von Stutthof verborgen blieben, konnte das Gericht nicht glauben.
Wie hat Hitler "sein" Volk in einen mörderischen Eroberungskrieg führen können? Warum funktionierte die Maschinerie des Vernichtungskrieges und des Judenmordes so reibungslos? 31.01.2023 | 43:42 min
Von ihrem Platz habe die Angeklagte das Lager weitflächig überblicken können. Sie habe die Gefangenen in ihrem teils katastrophalen Gesundheitszustand erkannt und auch den Schornstein des Krematoriums gesehen. Schließlich unterhielt sie eine enge Beziehung zum Lagerkommandanten, war in dessen Gedanken stets eingeweiht - oder in den Worten des Gerichts:
Die Vorsitzende Richterin machte in der Verkündung auch deutlich, dass die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen lange nur unzureichend betrieben wurde. Viele Jahre habe der Rechtsstaat nicht nachvollziehbare Milde walten lassen, mehrfach beschrieb sie das Vorgehen als "fehlgeleitete Verfolgungspraxis". Erst in der jüngeren Vergangenheit habe ein Umdenken eingesetzt.
Zeitzeugen als Nebenkläger: "Wichtig für zukünftige Generationen"
Damit richtete sie sich vor allem an die Nebenkläger. Unter ihnen befinden sich ehemalige Insassen von Stutthof - so wie Josef Salomonovič, der noch ein kleiner Junge war, als die Nazis ihn mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder in das Konzentrationslager deportierten. Sein Vater wurde in Stutthof ermordet. Seine Mutter, sein Bruder und er überlebten mehrere sogenannte Todesmärsche.
Vor 60 Jahren begann mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess die juristische Aufarbeitung des Holocaust. Erstmals wurde so die westdeutsche Gesellschaft mit dem millionenfachen Morden der Nazis konfrontiert.20.12.2023 | 1:57 min
Bis heute fällt es Josef Salomonovič schwer, über diese Zeit zu sprechen. Trotzdem hat der 86-Jährige im Prozess gegen Irmgard F. als Zeuge ausgesagt.
Es gehe ihm dabei nicht um Genugtuung, sagte er vor der Entscheidung im Interview mit dem ZDF.
Letztlich betreffe der Prozess nicht so sehr ihn persönlich, sondern den deutschen Staat:
Der 20. November 1945 war der Beginn der Nürnberger Prozesse. Nürnberg wurde ausgewählt, da der Justizpalast kaum beschädigt war und ein großes Gefängnis unmittelbar angrenzte.22.06.2013 | 44:56 min
Versuch, historischer Verantwortung gerecht zu werden
Diese sollen wissen: Es gab eine Aufarbeitung - und zumindest den Versuch, der historischen Verantwortung gerecht zu werden. Und tatsächlich: Das Interesse an der heutigen Urteilsverkündung war immens, der Senat zog deshalb in den Großen Saal des Bundesverwaltungsgerichts um, um z.B. Schulklassen ausreichend Platz zu bieten.
Das Gericht erklärte dementsprechend ruhig und auch für Laien verständlich die Begründung seiner Entscheidung. Und - der gesellschaftlichen Bedeutung dieses Urteils erkennbar bewusst - schloss die Vorsitzende die Verkündung mit einem Zitat von Fritz Bauer, der als Generalstaatsanwalt die prägende Figur zur Aufklärung der NS-Verbrechen in der Nachkriegszeit war:
Daniel Heymann und Fabian Medler sind Redakteure in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.
Quelle: ZDF
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