Nord-Stream: Saboteur soll im Diplomatenauto geflohen sein
Exklusiv
Nord-Stream-Taucher war in Berlin:Saboteur soll im Diplomatenauto geflohen sein
von Arndt Ginzel, Julia Klaus, Nils Metzger, Christian Rohde
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Ein mutmaßlicher Nord-Stream-Saboteur soll für seine Flucht aus Polen ein ukrainisches Diplomatenauto genutzt haben. Zuvor reiste er im Mai unbehelligt durch Deutschland.
Taucht hier ein Nord-Stream-Saboteur? Deutschen Fahndern konnte der Tauchlehrer Wolodymyr S. im Mai knapp entkommen.
Quelle: Facebook
Deutsche Behörden standen offenbar kurz davor, einen der mutmaßlichen Nord-Stream-Saboteure zu fassen. Doch zu einer Verhaftung des tatverdächtigen ukrainischen Tauchlehrers Wolodymyr S. kam es nicht - obwohl er sich noch im Mai in Berlin aufgehalten hatte. Ermittler hatten ihn da bereits seit Monaten identifiziert.
Recherchen von ZDF frontal, "Spiegel" und dem dänischen Rundfunk (DR) zeigen nun, wie der Gesuchte den deutschen Ermittlern knapp entwischte - und kurze Zeit darauf offenbar mit einem Fahrzeug mit ukrainischem Diplomatenkennzeichen die polnische Grenze in Richtung seiner Heimat überquerte.
Die Rekonstruktion einer verpassten Chance, die Nord-Stream-Sabotage aufzuklären.
2022 waren Leitungen der Nord-Stream-Pipelines gesprengt worden. Zuletzt gab es erstmals einen Haftbefehl - gegen einen Ukrainer. Der Verdächtige soll einer der Taucher gewesen sein.14.08.2024 | 2:39 min
Eine Urlaubsreise quer durch Deutschland
Es ist der frühe Morgen des 26. Mai 2024, als einer der meistgesuchten Männer Europas im Hafen Rostock deutschen Boden betritt. Wolodymyr S. kommt aus dem Urlaub aus Kopenhagen. Gemeinsam mit Frau und drei Kindern hat er von Gedser aus mit einer Scandlines-Fähre die Ostsee überquert. N
Nun geht es über die Autobahn 19 nach Berlin, Verwandte besuchen in der deutschen Hauptstadt. Der ukrainische Staatsbürger und Tauchlehrer Wolodymyr S. - davon ist der Generalbundesanwalt überzeugt - war beteiligt an der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines.
Der Generalbundesanwalt ist überzeugt, dass der Ukrainer Wolodymyr S. an der Nord-Stream-Sprengung beteiligt war. Dennoch konnte der Verdächtige unerkannt durch Deutschland reisen.29.08.2024 | 1:35 min
Seit fast zwei Jahren liegen die zerstörten Gasröhren auf dem Grund der Ostsee und seitdem versuchen deutsche Staatsschützer herauszufinden, wer hinter dem Anschlag steckt. Hinweise des niederländischen Militärgeheimdiensts führten sie zu einer 15 Meter langen Segelyacht - der "Andromeda". Von der aus habe ein Tauchkommando Sprengsätze an den Unterwasserröhren angebracht und gezündet. So lautet die These der Bundesanwälte.
Tatsächlich finden Ermittler die Miet-Yacht und an Deck DNA-Reste, dazu Sprengstoffspuren. Digitale Hinweise, darunter E-Mail-Adressen, führen sie in die Ukraine. Doch während Dänen und Schweden ihre Ermittlungen einstellen, bleiben die Deutschen dran. Anfang des Jahres sei der Taucher Wolodymyr S. als mutmaßliches Mitglied der Sabotage-Crew identifiziert worden. Mit den Ermittlungen Vertraute erzählen: Über ein Blitzerfoto und weitere Zeugen sei "der Durchbruch" gelungen. Das war Anfang 2024.
Die ganze Welt fragt sich: Wer hat die Nord-Stream-Pipelines gesprengt? War es die Ukraine? Antworten im Faktencheck.18.03.2024 | 18:43 min
Verwandte schildert Besuch des Tauchers in Berlin
Knapp fünf Monate später, am Vormittag jenes 26. Mai, besucht der dringend Tatverdächtige Berlin - unbehelligt von den Sicherheitsbehörden. So erzählt es eine freundliche Frau mit dunkelblondem Haar, als Reporter von ZDF frontal und "Spiegel" ihr Fotos von Wolodymyr S. zeigen. Ob sie diesen Mann kenne? "Natürlich", sagt die Ukrainerin.
Er habe mit seiner Familie auf dem Rückweg aus dem Dänemarkurlaub für ein paar Stunden einen Zwischenstopp bei ihr eingelegt. Im Garten eines Reihenhauses im Berliner Stadtteil Westend sucht sie auf ihrem Handy Fotos. Eins zeigt ihre Cousine und die Kinder. "Wolodymyr ist nicht auf dem Foto, er hat fotografiert."
Die Ukrainerin erzählt, sie sei gleich bei Kriegsbeginn aus Kiew vor den russischen Bomben nach Berlin geflohen. Aus den Nachrichten weiß sie, was die deutschen Ermittler Wolodymyr S. vorwerfen. "Total überrascht" sei sie. Ihrem Verwandten traut sie den Anschlag auf die Pipeline nicht zu.
Die Polizei jedenfalls hätte noch nicht bei ihr geklingelt, sagt die Ukrainerin. "Niemand hat mich angerufen." Ihr Verwandter, den der Generalbundesanwalt so dringend sucht, fährt nach knapp sechs Stunden mit seiner Familie weiter nach Polen.
Ermittler erfuhren zu spät von Deutschland-Reise
Die deutschen Ermittler merken erst hinterher, dass Wolodymyr S. unbeschwert durch Deutschland reiste. Obwohl sie den ukrainischen Taucher seit Anfang des Jahres im Visier haben, erlässt der Bundesgerichtshof erst Anfang Juni einen Haftbefehl. S. wird in der deutschen Fahndungsdatenbank ausgeschrieben - eine Woche zu spät.
Doch die deutschen Fahnder können hoffen. Schließlich haben sie herausgefunden, wo der ukrainische Taucher und seine Familien wohnen - in einem Vorort der polnischen Hauptstadt. Am 21. Juni schicken sie einen europäischen Haftbefehl nach Warschau. Die deutschen Beamten sind überzeugt, die polnische Staatsanwaltschaft werde Wolodymyr S. umgehend festnehmen lassen. So jedenfalls müsste es laufen, wenn alles nach EU-Recht geht. Doch es kommt anders.
Ein Artikel im "Wall Street Journal" sieht ukrainische Generäle hinter der Nord-Stream-Sprengung. Auch Präsident Selenskyj taucht auf. Journalist Pancevski bei ZDFheute live. 16.08.2024 | 30:25 min
Trotz EU-Haftbefehl - keine Festnahme in Warschau
Polnische Politiker und Ermittler hatten immer wieder die deutsche These von der "Andromeda" mit dem ukrainischen Tauchkommando in Zweifel gezogen und vermuten die Täter in Russland. Der Generalbundesanwalt berichtete im Bundestag hinter verschlossenen Türen, dass es für die These keinerlei Beleg gäbe. Im Bundeskanzleramt wird hinter vorgehaltener Hand erzählt, in Polen gelte der Anschlag auf die Nord-Stream-Pipeline als Heldentat. Richtig ist, dass sich Warschau genau wie Kiew immer an dem russisch-deutschen Energieprojekt in der Ostsee störte. Es galt beiden Ländern als Sicherheitsrisiko, was sie immer wieder betont hatten, ohne Gehör zu finden. Kanzler Olaf Scholz hatte Nord Stream noch Ende 2021 als unpolitisches und rein "privatwirtschaftliches Vorhaben" gepriesen. Als die Röhren dann explodierten, war die Klage darüber in Polen nicht gerade laut.
Am 2. Juli, also elf Tage nachdem der europäische Haftbefehl zu Wolodymyr S. Polen erreicht, besucht Scholz Warschau und die neu gewählte Regierung von Donald Tusk. Die Regierungschefs besprechen, wie sie künftig noch enger zusammenarbeiten könnten: "Unsere Verantwortung vor der Vergangenheit bedeutet auch Verantwortung für unsere gemeinsame Zukunft", betont Scholz. Schließlich sei die Sicherheit Deutschlands und Polens untrennbar miteinander verbunden. Aus Sicherheitskreisen heißt es, die Signale der Polen seien eindeutig gewesen - keine Unterstützung im Fall des mutmaßlichen Nord-Stream-Saboteurs. Manch einer, der in Berlin mit dem Fall befasst ist, ist überzeugt, dass Warschau den Gesuchten hat warnen lassen. Beweise dafür gibt es nicht - aber Indizien.
Wurde Wolodymyr S. gewarnt?
Nach Informationen von ZDF frontal und "Spiegel" wollte die Familie von Wolodymyr S. noch einmal Urlaub machen in Dänemark. Wie Recherchen vor Ort ergaben, buchte die Ehefrau von Wolodymyr S. am 26. Juni erneut ein Apartment im ruhigen Neubaugebiet im Kopenhagener Stadtteil Byggen Syd. Die Reise war geplant für den August. Doch am 28. Juni storniert sie ihre Reservierung - genau eine Woche, nachdem die Deutschen ihren Haftbefehl nach Polen geschickt haben.
Die polnische Staatsanwaltschaft jedenfalls sieht keine Schuld bei sich. Sie verweist darauf, dass die deutschen Behörden zwar Mitte Juni einen Haftbefehl geschickt, aber die Fahndung erst Ende Juli zusätzlich ins Schengener Informationssystem (SIS) eingestellt hätten. Nur so hätte an EU-Außengrenzen gezielt nach dem Tatverdächtigen gesucht werden können. Warum die polnischen Ermittler Wolodymyr S. nicht einfach in Warschau festgenommen haben, erklärt das nicht. Vom Sprecher der zuständigen Bezirksstaatsanwaltschaft in Warschau, Piotr Skiba, dazu nur so viel:
Wolodymyr S. im Tauchanzug 2016 in der Ukraine - ist er einer der Nord-Stream-Saboteure?
Quelle: Facebook
Hätte Polen den Verdächtigen sofort festnehmen müssen?
Ob mangelndes Glück oder mangelnder Einsatz - es vergingen mehr als zwei Wochen, in denen die Polen Wolodymyr S. nicht festnahmen. Für Walther Michl, Professor für Öffentliches Recht an der Bundeswehr Universität in München, ein unverhältnismäßig langer Zeitraum:
Ist das schon Verhinderung der deutschen Ermittlungen? "Zumindest haben sie nicht mit Hochdruck an der Verhaftung dieser Person gearbeitet", sagt Michl. In deutschen Sicherheitskreisen heißt es, diesen Affront werde man den Polen nicht vergessen.
Die schwedische Staatsanwaltschaft stellt ihre Ermittlungen zu den Nordstream-Explosionen ein. Beweismaterial geht nun nach Deutschland. Was heißt das für das weitere Verfahren?07.02.2024 | 31:28 min
Tatverdächtiger floh in Auto mit ukrainischem Diplomatenkennzeichen
Am 6. Juli jedenfalls setzt sich der Gesuchte ab. Um 6.20 Uhr überquert Wolodymyr S. den Grenzübergang bei Korczowa in seine Heimat Ukraine. Wie ZDF frontal und "Spiegel" erfuhren, soll er ein Fahrzeug mit diplomatischen Kennzeichen genutzt haben. Der Wagen soll der ukrainischen Botschaft in Warschau zuzuordnen sein. Nach der Flucht aus Polen ist fraglich, ob deutsche Ermittler Wolodymyr S., den dringend Tatverdächtigen im Fall Nord Stream, jemals zu fassen bekommen.
In Warschau treffen Reporter von ZDF frontal die Frau des abgetauchten Tatverdächtigen. Juliana S. will eigentlich nicht mit Journalisten sprechen, auch nicht darüber, ob ihr Mann einer der Nord-Stream-Saboteure ist. Sie dementiert den Vorwurf auf Nachfrage nicht. Der Reporter an der Gartentür insistiert: Viele Deutsche wollten wissen, was wahr ist und was nicht. "Das ist um einiges wichtiger für die Menschen in der Ukraine", antwortet Juliana S. Ob es möglich sei, ihren Mann in der Ukraine zu treffen? "Ich weiß es nicht. Sie können unsere Regierung fragen." Dann ist das Gespräch zu Ende. Wolodymyr S. reagierte auf Anfragen von ZDF frontal und "Spiegel" nicht.