Sprengung von Nord Stream: So knapp entkam der Verdächtige

    Exklusiv

    Ermittler jagen Saboteur:Nord-Stream-Akte: Wie der Taucher entkam

    von David Gebhard, Julia Klaus, Christian Rohde
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    Nord-Stream-Ermittlungsakten zeigen, wie dicht deutsche Ermittler einem mutmaßlichen Saboteur auf den Fersen waren. Eine Rekonstruktion von ZDF frontal und Spiegel.

    Tauchen in den Akten deutscher Ermittler auf: Wolodymyr S. und sein Tauch-Kollege.
    In den Akten deutscher Ermittler zum Nord-Stream-Fall: Wolodymyr S. und sein Tauch-Freund.
    Quelle: privat

    Am 14. August 2024 geht beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe ein Schreiben der Hauptkommandantur des polnischen Grenzschutzes ein. Es ist nur knapp eine Seite lang. Aber die wenigen Sätze machen den Staatsanwälten der Abteilung Terrorismus klar: Ihre Ermittlungen zum Fall Nord Stream müssen verraten worden sein.
    Der ukrainische Staatsbürger Wolodymyr S. - so steht es dort schwarz auf weiß - wurde am 6. Juli 2024 in einem Fahrzeug über den polnischen Grenzübergang Korczowa Richtung Ukraine gefahren, mit einem PKW der Marke BMW und einem Kennzeichen der ukrainischen Botschaft in Warschau. Es folgen bürokratische Formalien, Unterschrift, das war's. Der wohl meistgesuchte Mann Europas konnte fliehen.
    Taucht hier ein Nord-Stream-Saboteur? Foto von Wolodymyr S.
    Deutsche Behörden standen offenbar kurz davor, einen der mutmaßlichen Nord-Stream-Saboteure zu fassen.03.09.2024 | 10:20 min
    Spiegel und ZDF frontal konnten vertrauliche Akten auswerten, die nun erstmals im Detail zeigen, wie dicht die deutschen Ermittler den mutmaßlichen Attentätern auf den Fersen waren - mithilfe von Urlaubsfotos, einem Blitzer und der Analyse gefälschter Papiere. Eine Rekonstruktion:

    Die Urlaubsfotos

    Als sie am 23. September 2022 den Hafen von Wiek auf der Insel Rügen fotografieren, misst keiner der Urlauber dem roten Kleintransporter große Bedeutung zu, der da am Hafenbecken parkt, neben einer Jacht, die getauft ist auf den schönen Namen "Andromeda". Am frühen Vormittag dieses Septembertages schleppen Männer Taucherflaschen, Kisten, Getränkeflaschen und Taschen von der Jacht und laden sie in den Transporter. Segelboote schaukeln, über der Ostsee wehen ein paar Böen, alles ganz malerisch.
    Bug des Segelschiffs Andromeda in der Ostsee mit Wellengang
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    Drei Tage später explodiert Nord Stream, drei Stränge der Pipeline auseinandergerissen, Gas strömt aus und die Welt spekuliert über die Täter. Es ist der größte Sabotageakt in der europäischen Nachkriegsgeschichte. Der Kreml beschuldigt Washington, Amerika traut Putin alles zu. Die ukrainische Regierung weist jede Verantwortung von sich und der deutsche Bundeskanzler verspricht Aufklärung, rechtsstaatlich, ohne jeden politischen Einfluss.

    Ermittlungen konzentrieren sich auf "Andromeda"

    Die Ermittler von Bundesanwaltschaft, Bundespolizei und Bundeskriminalamt (BKA) konzentrieren ihre Suche schnell auf eine Segeljacht. Nach Hinweisen ausländischer Nachrichtendienste stoßen sie auf die "Andromeda" und finden an Bord Sprengstoffspuren - HMX - denselben wie am Anschlagsort am Grund der Ostsee.
    Als ihnen klar wird, dass die Jacht in Wiek Station gemacht hat, suchen sie Zeugen und haben Glück. Denn auf den Lichtbildern der Urlauber ist der rote Transporter neben der "Andromeda" mit geöffneter Heckklappe zu sehen und auch das Kennzeichen ist zu erkennen. So steht es in den Akten.

    Hinweise von Ukrainer

    Mithilfe polnischer Behörden machen die Ermittler den Fahrer des Transporters ausfindig, ein an der Sabotage unbeteiligter ukrainischer Staatsbürger. Er erzählt den Ermittlern, er habe vom Hafen Wiek die Tauchausrüstung abgeholt und außerdem einen Mann nach Warschau gefahren, einen der Taucher.
    Eine Colalge mit Putin links im Vordergrund und Biden rechts im Vordergrund. Hintergrund: Nordstream-Sprengung.
    Die ganze Welt fragt sich: Wer hat die Nord-Stream-Pipelines gesprengt? War es Russland? Stecken die USA dahinter? Oder etwa doch die Ukraine? Antworten im Faktencheck.11.03.2024 | 18:05 min
    Als ihm eine Lichtbildmappe vorgelegt wird, identifiziert der Chauffeur Wolodymyr S., Lehrer an einer Tauchschule in Kiew und ehemaliger Soldat der ukrainischen Streitkräfte. Der habe ihm erzählt, er sei für eine nicht näher erläuterte "Sache" auf der Ostsee engagiert worden. Und: Im Gepäck des Transporters habe sich ein Anker mit einem Gewicht befunden, mit dem man eine Stelle im Wasser markieren könne.

    Der Blitzer von Lietzow

    Den Tauchlehrer Wolodymyr S. hatten die deutschen Fahnder schon vorher auf dem Schirm. Sie wissen von der Firma, die die "Andromeda" an die ukrainische Crew vermietete, dass die Jacht am 8. September 2022 schon einmal im Hafen Wiek auf Rügen lag. Nach Aussagen des Hafenmeisters sei das Boot am Vormittag von einem unauffälligen Transporter mit Proviant beladen wurde.
    In den frühen Morgenstunden desselben Tages war dieser Transporter mit überhöhter Geschwindigkeit Richtung Insel Rügen unterwegs. Und so wurde der Citroen Spacetourer mit ukrainischem Kennzeichen in der Ortsdurchfahrt Lietzow - rund 30 Kilometer vor Ankunft in Wiek - geblitzt. Auf dem Foto sind laut Akten zwei Personen auf den Vordersitzen zu erkennen.
    Sabotage-Verdacht an zwei Militärstandorten
    2022 waren Leitungen der Nord-Stream-Pipelines gesprengt worden. Nun gibt es erstmals einen Haftbefehl - gegen einen Ukrainer. Der Verdächtige soll einer der Taucher gewesen sein.14.08.2024 | 2:39 min
    Als die Ermittler in sozialen Netzwerken beginnen, Gesichter abzugleichen, finden sie den Taucher Wolodymyr S. und kommen zum Ergebnis, dass es sich wahrscheinlich um ein und dieselbe Person handelt. Als die Fahnder herausfinden, dass Taucher und Fahrer in derselben Nacht offenbar ganz in der Nähe des Hafens von Wiek übernachtet hatten, sind sie sich sicher, dass sie den Tätern immer näher kommen.

    Gefälschte Pässe, rumänische Handynummer

    In den Unterlagen der Ermittler steht auch, dass die "Andromeda" über einen gefälschten rumänischen Pass mit dem Namen "Stefan Marcu" angemietet wurde. Diese Erkenntnis führte die Fahnder zu einem zweiten Tatverdächtigen, einem Freund von Wolodymyr S. Seit Jahren bereisen die beiden Grotten, Höhlen und Meere dieser Welt. Der Mann ist Profitaucher, geschult im Umgang mit Geräten und Gasen, die Tauchgänge bis zu 300 Meter Tiefe zulassen.
    Laut der Akten meldete dieser Profitaucher im Juni 2022 kurz vor dem Tatzeitraum eine Kreditkarte an. Der entscheidende Punkt: Auch er nutzte den Tarnnamen "Stefan Marcu". Mit der Kreditkarte eröffnete er ein Amazon-Konto. Die hinterlegte E-Mail-Adresse führt zu seiner Tauchschule in Kiew.
    Die Ermittler finden mithilfe einer Auskunft von Facebook heraus, dass der verdächtige Profitaucher eine rumänische Handynummer nutzt. Und als die Ermittler das Handy des Fahrers auswerten, der vom Hafen in Wiek die Taucherausrüstung abholte, landen sie einen Treffer. Am 24. September wurden ihm über die rumänische Nummer Nachrichten mit Anweisungen geschickt, wo er die Ausrüstung der "Andromeda" in Kiew abladen soll.
    Segelyacht Andromeda auf dem Trockendock
    Die Sabotage an den Gas-Pipelines von Nord Stream in der Ostsee birgt immer wieder neuen politischen Sprengstoff. Eine verdächtige Segeljacht schlug hohe Wellen.14.03.2023 | 11:18 min
    All die Erkenntnisse reichen dem zuständigen Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof für einen Durchsuchungsbeschluss gegen Wolodymyr S., niedergeschrieben am 5. Juni 2024. Der Ukrainer wohnt mit Frau und Kindern in einem Vorort von Warschau. Also erwirken die deutschen Ermittler einen Europäischen Haftbefehl. Doch statt den beschuldigten Taucher sofort festzunehmen, lassen die polnischen Behörden Zeit verstreichen mit bürokratischen Formalien. Inzwischen wird Wolodymyr S. offenbar gewarnt und kann mithilfe der ukrainischen Botschaft aus Polen in seine Heimat fliehen.
    Es ist der vorläufige Höhepunkt in einem der größten Sabotage-Fälle seit dem Zweiten Weltkrieg. Mutmaßlicher Verrat hat den Ermittlern einen Strich durch die Rechnung gemacht. Welche langfristigen politischen Konsequenzen das hat, ist nicht absehbar. Ob die verdächtigen Taucher je geschnappt und gar vor Gericht gestellt werden, ist heute mehr als fraglich.
    TN: Nord Stream: Was wusste Selenskyj?
    Ein Artikel im "Wall Street Journal" sieht ukrainische Generäle hinter der Nord-Stream-Sprengung. Auch Präsident Selenskyj taucht auf. Journalist Pancevski bei ZDFheute live. 16.08.2024 | 30:25 min

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