Landtagswahl Thüringen: Politik-Verhältnisse ohne Lehrbuch

Björn Höcke betritt den Saal mit Verstärkung. Der Thüringer Wahlkampfstart der AfD am 20. Juli in Arnstadt - er ist ein Spitzentreffen der drei Spitzenkandidaten von Brandenburg, Sachsen und Thüringen. In seiner Rede bedient der gebürtige Nordrhein-Westfale Höcke die Vorbehalte vieler Ostdeutscher gegen den Ukraine-Krieg. "Diese Ostwahlen entscheiden auch, ob dieses Land den Kriegskurs verlässt mittelfristig, oder ob es weiter in Richtung Kriegseskalation hineinmündet. Deswegen muss den Menschen klargemacht werden, man hat nur eine Möglichkeit den Frieden zu wählen und das ist die AfD."

Im Wahlprogramm zur Wahl in Thüringen am 1. September finden sich etwa ein klassisches Familienbild, eine Abschiebeinitiative. Vorne drauf der Titel "Alles für Thüringen!". Für die Verwendung der NS-Parole "Alles für Deutschland" war Björn Höcke zuletzt zweimal verurteilt worden. Die Revisionen dazu laufen.

Seit zehn Jahren sitzt die AfD im Thüringer Landtag. Jetzt will sie mehr. Allein die Sperrminorität, also mindestens ein Drittel der Mandate, würde reichen, wichtige Entscheidungen zu blockieren. Parteiinterne Streitereien, auch um die Führungsarbeit der Führungsfigur, sie werden ausgetragen auf offener Bühne. Höckes Macht bekommt Kratzer. Dennoch könnte die AfD, Stand jetzt, mit Abstand stärkste Kraft werden.

In aktuellen Umfragen liegt die AfD vor der CDU und auch vor den Parteien der rot-rot-grünen Minderheitsregierung. Schon jetzt Verhältnisse ohne Lehrbuch.

Der erste und einzige linke Ministerpräsident, Bodo Ramelow, wirbt lieber nur mit sich selbst. Plakate ohne Parteilogo. Dass Bodo Ramelow der mit Abstand beliebteste Politiker im Land ist, nutzt seiner Partei nichts. Die Linke ist abgestürzt.

Dennoch breitet Ramelow seine Arme aus, bietet sich an als Koalitionspartner, zieht dabei aber eine klare Grenze:

Nach zehn Jahren im Amt, mit kurzer Unterbrechung, nach fünf Jahren Minderheitsregierung gehen die Grabenkämpfe nicht spurlos an den Parteien und der Landesregierung vorbei. Ramelows Regierung ist auf Stimmen der Opposition angewiesen. Die gab ihr die CDU anfangs noch. Der Pakt ist aber längst beendet.

CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt will selbst Ministerpräsident werden. Der 47-Jährige ist im Frühjahr mit Björn Höcke in eine Fernsehshow gegangen. Zumindest bekannter ist er seitdem, nicht nur in Thüringen. Die jüngsten Wahlergebnisse sieht Mario Voigt als Rückenwind für den 1. September: "Bei der Kommunalwahl sind wir stärkste Kraft geworden, wir haben so viele Stimmen wie die Ampelparteien, also SPD, Grüne und FDP und auch die Linken zusammen."

Eine Zusammenarbeit mit AfD und Linke schließt die CDU per Bundesbeschluss aus. Ihr gehen die Optionen aus.

Ein möglicher neuer Koalitionspartner hat gerade erst die politische Bühne betreten und ist schon stark in den Umfragen: das Bündnis Sahra Wagenknecht. Stühle rücken, Tische schieben, sie improvisieren beim Wahlkampfauftakt in einer Schreinerei.

Knapp 80 Mitglieder hat das Thüringer BSW, an der Spitze hat nicht jeder Politikerfahrung. Eine Partei im Werden. Ein Gefühl des Aufbruchs, wie nach der Wende, sagt Spitzenkandidatin Katja Wolf. Hinter den Kulissen schauen sie schon, wer was überhaupt machen könnte. Von null auf hundert. Kaltstart auf steiler Rampe Richtung Wahl.

Die Berliner Ampelparteien sind in Thüringen abgeschlagen. Die Regierungspartei SPD, mit Innenminister Georg Maier an der Spitze, ist derzeit in Umfragen einstellig. Die Grünen treten mit einer Doppelspitze an, mit Madeleine Henfling und Bernhard Stengele. Sie setzen auf ihr Kernthema Klimaschutz. Ihr Wiedereinzug ist längst nicht sicher, wie auch bei der FDP. Deren Spitzenkandidat Thomas Kemmerich, 2020 für wenige Tage Thüringer Ministerpräsident, damals gewählt mit Stimmen der AfD, tritt auch wieder an. Unterstützung von der Bundespartei gibt es für ihn nicht.

Alte Parteien-Gewissheiten sind in Thüringen längst abgelöst. Stattdessen entwickelt sich ein ganz neuer politischer Kosmos vor der Landtagswahl am 1. September. Klar ist schon jetzt: Das Ergebnis wird die Politik wieder verändern, mit weitreichenden Folgen, auch über Thüringen hinaus.