Die deutsche Kriminalitätsstatistik ist unvollständig, verzerrt und gehört in dieser Form abgeschafft, sagt der Kriminologe Martin Thüne - und hat Ideen für Verbesserungen.
Die steigende Ausländerkriminalität löste eine Debatte über die Migrationspolitik aus. Innenministerin Faeser kündigt ein härteres Vorgehen und konsequentere Abschiebungen an.
09.04.2024 | 2:52 min
Der alljährliche Wirbel um die gerade veröffentlichte Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) verebbt gerade, die Diskussion um mögliche politische Konsequenzen läuft aber weiter. Im Bundestag etwa hat Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) gestern mehr Zurückweisungen an deutschen Grenzen gefordert. Seine Begründung: Laut PKS hatten 41 Prozent der registrierten Tatverdächtigen in Deutschland 2023 keinen deutschen Pass besessen.
Zahlreiche Kriminologen wiesen in den letzten Tagen darauf hin, dass derartige Rückschlüsse aufgrund der vorgelegten Daten nicht so ohne Weiteres zu ziehen sind. Auch die Debatte um die Aussagekraft der PKS an sich ist nicht neu - sie wird jedes Jahr aufs Neue geführt.
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Kriminologe fordert radikale Erneuerung der PKS
Der Kieler Kriminologe Martin Thüne von der Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung des Landes Schleswig-Holstein (FHVD) forderte in der "Frankfurter Rundschau" gar ein radikales Infragestellen der Statistik:
ZDFheute hat bei Thüne nachgefragt, wie dieses "Neue" aussehen könnte und was die Aussagekraft der PKS verbessern würde. Der Kriminologe schlägt drei Ideen vor, die die Statistik grundlegend verändern würden.
1. Dunkelfeld und weitere Studien mit einbeziehen
Eines der größten Mankos der PKS: Ein Großteil der begangenen Straftaten wird der Polizei nicht bekannt und fließt deshalb erst gar nicht in die Statistik mit ein - das Dunkelfeld bleibt also außen vor. Das Bundeskriminalamt (BKA) selbst schreibt auf seiner Webseite: "Die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) wird dadurch eingeschränkt, dass nur die der Polizei bekannt gewordenen Straftaten und Tatverdächtigen gezählt werden."
Welche Auswirkungen das haben kann, erklärt Thüne am Beispiel Sexualstraftaten: Bei manchen Delikten würden nur zwei bis drei Prozent aller Fälle angezeigt. Im Gegensatz dazu würden beispielsweise Wohnungseinbrüche fast immer zu einer Anzeige führen. Dass sich die amtliche Kriminalstatistik in Deutschland grundsätzlich nur auf das sogenannte "Hellfeld" bezieht, hält Thüne für einen kapitalen Fehler. Andere Länder wie die USA oder Großbritannien beziehen das Dunkelfeld in ihre Erhebungen mit ein.
Die PKS ist eine sogenannte Ausgangsstatistik. Das bedeutet, dass in ihr die der Polizei bekannt gewordenen und durch sie endbearbeiteten Straftaten, einschließlich der mit Strafe bedrohten Versuche und der vom Zoll bearbeiteten Rauschgiftdelikte, abgebildet werden und eine statistische Erfassung erst bei Abgabe an die Staatsanwaltschaft erfolgt. Dabei ist zu beachten, dass die Zahlen auch durch das Anzeigeverhalten in der Bevölkerung beeinflusst werden und neben dem "Hellfeld" ein "Dunkelfeld" nicht erfasster Straftaten bleibt.
Nicht enthalten sind Staatsschutzdelikte, Verkehrsdelikte (mit Ausnahme der Verstöße gegen §§ 315, 315b StGB und § 22a StVG), Straftaten, die außerhalb der Bundesrepublik Deutschland begangen wurden, Ordnungswidrigkeiten und Verstöße gegen strafrechtliche Landesgesetze, mit Ausnahme der einschlägigen Vorschriften in den Landesdatenschutzgesetzen.
Delikte, die nicht zum Aufgabenbereich der Polizei gehören (z.B. Finanz- und Steuerdelikte) bzw. unmittelbar bei der Staatsanwaltschaft angezeigt und ausschließlich von ihr bearbeitet werden (z.B. Aussagedelikte), sind ebenfalls nicht in der PKS enthalten.
Die PKS trifft auch keine Aussage darüber, welchen Verlauf das bei den Justizbehörden in Gang gesetzte Verfahren nimmt, ob also eine Verurteilung erfolgt. Es sind daher auch Fälle beinhaltet, in denen das Verfahren durch die Staatsanwaltschaft eingestellt wurde oder es zu einem Freispruch durch das Gericht gekommen ist.
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2023
Ein weiterer Aspekt, den Thüne nennt: Zahlreiche Behörden, Ministerien und andere Einrichtungen sammeln Daten und veröffentlichen Analysen, die für die Kriminalitätsstatistik ebenfalls relevant wären. Sie würden aber nicht berücksichtigt: "Das Material ist alles da, liegt aber in vielen verschiedenen Datentöpfen und wird nicht systematisch zusammengeführt, um eine bessere und mithin realistischere Datengrundlage zu diskutieren." So veröffentlicht beispielsweise die Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht jährlich einen Bericht zum Konsum illegaler Drogen in Deutschland mit detaillierten Informationen und Daten - die in die bisherige PKS nicht einfließen würden, so Thüne. Es gebe zudem viele weitere Beispiele für solche zusätzlichen amtlichen Statistiken mit wichtigen Zusatzinformationen, die im Rahmen der PKS-Veröffentlichung aber vollständig ignoriert werden.
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2. Fortlaufende Aktenzeichen
Ein weiteres Problem ist laut Thüne, dass Vorgänge nicht durch mehrere Instanzen mit einem gleichbleibenden Aktenzeichen bearbeitet werden. So kann mit Blick auf die Statistik nicht ohne größeren Aufwand nachverfolgt werden, wie sich angezeigte Delikte im weiteren Verfahrensverlauf entwickeln, also ob Tatverdächtige zum Beispiel freigesprochen oder verurteilt werden oder ob das Verfahren aus anderen Gründen eingestellt wird.
Thüne spricht dabei vom sogenannten "Strafverfolgungstrichter": Dabei handelt es sich um ein kriminologisches Schema, um den Ausfilterungsprozess in der Strafverfolgung darzustellen. Es wird dabei etwa unterschieden zwischen "registrierten Fällen", "ermittelten Tatverdächtigen“ und "Verurteilen". Diese Art der schematischen Darstellung gibt es schon länger, aber ihre Erstellung ist zum einen aufwändig, weshalb sie nur unregelmäßig und nur ausschnittsweise erstellt wird. Zum anderen liefert sie nur einen Bruchteil der Informationen, die eine echte Verlaufsstatistik liefern könnte.
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3. Datenqualität verbessern
Die Datenqualität der PKS sei problematisch "von der Datenerfassung bis zur Ergebnispräsentation". Die Datenerfassung betrifft zum Beispiel Beamtinnen und Beamte, die Anzeigen aufnehmen oder Straftaten anderweitig registrieren. Behördeninterne Auswertungen, aber auch einschlägige Forschungsprojekte legen nahe, dass die Qualität der Datenerfassung oft zu wünschen übrig lässt. Das Problem der ausbaufähigen Datenqualität sei bei den Polizeien und in der Justiz bekannt und es gebe mittlerweile auch entsprechende Schulungen Diese Maßnahmen müssten aber noch nachhaltiger und vor allem flächendeckend umgesetzt werden.
Auch die Vorstellung und Bereitstellung der erfassten Daten in der Kriminalstatistik sieht Thüne kritisch:
Bei der PKS handele es sich deshalb eben nicht um wissenschaftliche Daten mit dem Anspruch der Nachvollziehbarkeit, sondern sie sei eher ein behördlicher Arbeitsnachweis der Polizei in Deutschland. Das sei auch völlig in Ordnung, aber man müsse es eben auch so kommunizieren. Zudem gehe es darum, die Datenerfassung zu verbessern und vor allem weitere Datenquellen heranzuziehen, die teilweise schon existieren:
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Warum wird an der PKS in der aktuellen Form festgehalten?
Dass an der Polizeilichen Kriminalstatistik in der aktuellen Form trotz der regelmäßigen Kritik festgehalten wird, hat für Thüne mehrere Gründe: Zum einen ist es aufwändiger, weitere Daten und Studien mit in die Auswertung aufzunehmen. Außerdem würde durch die Einbeziehung des Dunkelfelds "ein völlig anderes Kriminalitätsbild herauskommen". Es würden zum Beispiel sehr viel mehr Sexualstrafdelikte in die Statistik einfließen, die aktuell nicht registriert werden, da sich Opfer zum Beispiel schämen und deshalb keine Anzeige erstatten. Auch die Aufklärungsquoten würden dadurch in einem anderen Licht erscheinen und vermutlich anders diskutiert werden.
Es sei anzunehmen, dass ein zwar realistischeres, aber faktisch zugleich umfangreicheres Bild der Kriminalität in Form einer genaueren Statistik durch manche Medien ausgeschlachtet würde, daher sei eine Veränderung der PKS zum Beispiel für die Innenministerien nicht sonderlich attraktiv. Aktuell wüssten zwar alle, dass die PKS teils nicht mal im Ansatz die Kriminalitätswirklichkeit abbildet, aber mit diesem Manko ließe sich am Ende aus Sicht einiger Politiker offenbar einfacher umgehen, als mit deutlich komplexeren Analysen. Kriminalität sei aber ein "komplexes Phänomen" - sinnvolle politische Maßnahmen könnten aber nur von einer vernünftigen Erkenntnisgrundlage ausgehend abgeleitet werden, so Thüne.