Michel Friedman: Schindler ein Vorbild für die Gegenwart

    Interview

    Publizist Michel Friedman:Schindler ist "Kompass für die Menschlichkeit"

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    Oskar Schindler rettete rund 1.200 Juden vor den Nazis, darunter auch die Eltern von Michel Friedman. Der Publizist erklärt, warum Schindler ein Vorbild für die Gegenwart ist.

    Oskar Schindler, schriftlicher Nachlass in Redaktionsräumen der Stuttgarter Zeitung
    Oskar Schindler rettete zahlreiche Menschen vor den Nazis. Michel Friedmans Eltern waren auch unter ihnen. Der Publizist erklärt im Interview, wieso Schindler ein Vorbild für die Gegenwart ist.
    Quelle: dpa

    Am 27. Januar wird an vielen Gebäuden in Deutschland Trauerbeflaggung herrschen. Es ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. 80 Jahre nach dem größten Verbrechen der deutschen Geschichte machen sich inzwischen viele Sorgen vor einer Radikalisierung.
    Besorgt schaut auch der Publizist und Philosoph Michel Friedman auf die demokratische Gesellschaft. Im Interview spricht er über Widerstand. Widerstand, wie ihn Oskar Schindler leistete und rund 1.200 Menschen vor der Tötung durch die Nazis rettete - darunter auch die Eltern und die Großmutter von Michel Friedman.
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    ZDFheute: Oskar Schindler war bis zum Ende seines Lebens ein enger Freund Ihrer Familie. Wie denken Sie heute an ihn zurück?
    Michel Friedman: Er ist der Mensch, der mir beigebracht hat, dass der Satz 'Was kann der Einzelne tun, was kann der Einzelne gegen die da oben tun?' als Ausrede, dass man nichts tut, einfach nicht funktioniert. In Freiheit, in Demokratie kann ich nur sagen: Wir können alles tun.

    Solange es Menschen wie Oskar Schindler gibt, bin ich nicht bereit irgendjemandem zuzubilligen, dass wir zynisch werden.

    Michel Friedman, Publizist, Jurist, Philosoph

    Er hat sich gegen das Naziregime gestellt. Er hat Menschen unter Lebensgefahr gerettet. Er ist ein Kompass für die Menschlichkeit.

    Oskar Schindler wurde am 28. April 1908 in Zwittau in Mähren geboren. 1939 trat er in die NSDAP ein. Als 31-jähriger Kaufmann kam er nach Krakau, das seit dem 6. September 1939 unter deutscher Besatzung stand. Dort übernahm er ein ehemaliges Press- und Emailwerk. 1940 wurde der Betrieb als kriegswichtig eingestuft. Damit erhielt Schindler das Recht, Häftlinge einzusetzen. Er fordert 1.200 polnische Arbeitskräfte an, darunter 600 Juden.

    Die Berichte der Juden aus dem Krakauer Ghetto verändern ihn. Als das Ghetto im März 1943 aufgelöst wird, besticht er die Führung des KZ Plaszow, damit seine Arbeiter weiterhin bei ihm arbeiten können. 1944 wird das KZ Plaszow aufgelöst. Damit sei für ihn klar gewesen, schreibt die "Stuttgarter Zeitung" nach Sichtung des schriftlichen Nachlasses, dass den Juden der Tod in den Vernichtungslagern droht.

    Es entsteht eine Liste mit den Namen von jüdischen Männern und Frauen, denen Schindler gemeinsam mit seiner Frau Emilie durch Täuschung und Bestechung von Nazis das Leben rettet. Er stirbt am 9. Oktober 1974 in Hildesheim. Er ist auf dem Katholischen Friedhof auf dem Zionsberg in Jerusalem beerdigt.

    ZDFheute: Oskar Schindler war anfänglich selbst Profiteur der NS-Zeit, hat sich dann aber dazu entschieden, mit seinen Taten rund 1.200 Menschen vor den Nazis zu retten. Wie geht das zusammen?
    Friedman: Ich finde gerade diese Ambivalenz interessant. Es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben lang unter großer moralischer Überschrift leben und großartig gebildet sind und wenn der Moment der Entscheidung kommt, versagen. Und es gibt Menschen wie Oskar Schindler, der eigentlich überhaupt nicht erwartbar diese Entwicklung geht.

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    Übrigens, als er die Liste beginnt, will er immer noch Profiteur sein. Er lässt sich dafür bezahlen, wer auf die Liste kommt. Auch meine Großmutter musste ihm einen Diamant abgeben. Aber je mehr er mit den Menschen zu tun hatte, desto mehr nimmt er all das, was er eigentlich für sich behalten wollte, um das Leben dieser Menschen zu retten.

    Diese Entwicklung finde ich so bemerkenswert, weil sie zeigt, dass man sich verändern kann, lernen kann, seine Persönlichkeit wieder finden kann.

    Michel Friedman

    Michel Friedman
    Quelle: Imago

    Julien Michel Friedman wurde am 25. Februar 1956 in Paris geboren und stammt aus einer polnisch-jüdischen Familie, deren Mitglieder zum größten Teil dem Holocaust des NS-Regimes zum Opfer fielen. Seine Eltern und Großmutter wurden von Oskar Schindler vor den Nazis gerettet.

    Von 1994 bis 1996 war Friedman Mitglied im CDU-Bundesvorstand. Er war von 2000 bis 2003 stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland und Herausgeber der Wochenzeitung Jüdische Allgemeine. Zudem war Friedman von 2001 bis 2003 Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses. Er moderierte mehrere Talksendungen, ist Autor mehrerer Bücher und Honorarprofessor an der Frankfurt University of Applied Sciences. 

    ZDFheute: In der Gegenwart wenden sich Teile der Gesellschaft inzwischen ganz offen in die Extreme. Wie wichtig ist heute das Erinnern an die NS-Zeit, an die Opfer, die Täter und die Widerständler?
    Friedman: Auschwitz war nicht exterritorial, Auschwitz war nicht außerhalb der Menschheit, sondern mittendrin. Der Hass ist eine menschliche Gefühlslage, die bis heute und immer weiter in uns stecken wird. Deshalb die Menschenrechte als Idee, dass der Mensch keinen Menschen mehr bewerten kann, ob er Mensch ist. Diese Idee ist so jung, so wunderbar. Sie wird aber immer wieder bedroht durch Ideologien und Ideologen.
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    Wir sehen, wie Populisten, wie Rechtsextremisten, demokratie- und menschenhassende Gruppen immer erfolgreicher werden, auch an der Macht. Sich dagegen zu wehren, tut man nicht, weil man sich der Minderheiten wegen engagiert, sondern für sich selbst.

    Wenn erstmal Menschen wieder entscheiden dürfen, wer Mensch sein darf oder nicht, wird es irgendwann alle treffen.

    Michel Friedman

    ZDFheute: Was können Recht, Politik und Gesellschaft tun, um sich den "demokratie- und menschenhassenden Gruppen" entgegen zu stellen?
    Friedman: Machen wir uns doch bitte nichts vor. Jüdisches Leben ist so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Es gibt Entwicklungen, die dazu geführt haben. Es ist ja nicht aus dem Nichts gekommen. Die Verantwortung ist eine gesellschaftliche, sie ist eine politische, sie ist eine Verantwortung der Medien, der Eliten, sie ist die Verantwortung eines jeden Einzelnen.
    Wenn im Verein jemand beleidigt wird, dann muss man aufstehen und sagen 'Stopp'. Wenn auf einem Fußballplatz schwarze Fußballspieler mit Bananen beschmissen werden, dann muss man sagen 'Stopp'.
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    Wenn in der Familie jemand rassistisch oder antisemitisch wird, muss man sagen ‚Stopp‘.

    Michel Friedman

    Das ist einerseits die Selbstermächtigung. Und das ist andererseits die demokratische Kultur, zu widersprechen, wenn Menschenrechte in Frage gestellt werden.

    Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Der Ort gilt heute als Synonym für den Holocaust. Rund um den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus widmet sich das ZDF den Themen Judenhass, NS-Diktatur und Erinnerungskultur.

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    ZDFheute: Diese Entwicklung ist aber keine rein deutsche. Inwiefern ist sie auch eine Auseinandersetzung der Systeme?
    Friedman: Dieser gesellschaftliche Kampf findet gerade statt. Einerseits von den Diktaturen. Xi aus China und Putin aus Russland haben den Demokratien und damit der Würde des Menschen, die unantastbar ist, den Kampf angesagt. Der Iran macht es auf seine Art und Weise auch. Der Führer der westlichen Demokratien, Trump, beleidigt, kränkt und tritt die Menschenrechte mit Füßen in seinen Äußerungen.

    Wir sind in einer großen Auseinandersetzung, ob wir uns in der Modernen weiterentwickeln oder uns zurückentwickeln.

    Michel Friedman

    Das Interview führte Kai Remen. Er ist Redakteur und Reporter im ZDF-Landesstudio Rheinland-Pfalz.

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    Quelle: dpa

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