Cum-Ex-Ermittlerin: "Wahrscheinlich der größte Steuerraub"

    Interview

    Ehemalige Cum-Ex-Ermittlerin:Staat "viel zu schwach aufgestellt"

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    Die Aufarbeitung des gigantischen Cum-Ex-Skandals lässt zu wünschen übrig. Das denkt auch Ex-Ermittlerin Anne Brorhilker und kündigte deshalb ihren Job. Im ZDF erklärt sie, warum.

    21.01.2020, Nordrhein-Westfalen, Bonn: Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker sitzt zu Beginn des Prozesstages des Cum-Ex-Prozesses im Landgericht.
    Mit ihrer Kündigung kritisiert Staatsanwältin Anne Brorhilker die Aufarbeitung des Cum-Ex-Skandals. In der Bürgerbewegung Finanzwende möchte sie nun künftige Missstände aufdecken.15.07.2024 | 3:06 min
    ZDFheute: Frau Brorhilker, können Sie sich noch daran erinnern, als Sie zum ersten Mal den Begriff "Cum-Ex" gehört haben?
    Anne Brorhilker: Als ich den ersten Fall vom Bundeszentralamt für Steuern auf den Tisch bekommen habe, hat mir das Amt diesen Betrugstrick erklärt. In dem Gespräch ist alles an mir vorbeigerauscht wie ein D-Zug, aber ich habe mich dann noch mal an den Küchentisch gesetzt und alles genau aufgezeichnet.
    Da fiel mir auf, ach, das ist ja das Gleiche wie bei Umsatzsteuerkarussellen, also Warenkreisgeschäften, bei denen es auch nicht um Handel geht, sondern nur um Steuererstattungen.
    Cum-Ex: Aufklärung verhindert?
    Cum-Ex gilt als größter Steuerskandal Deutschlands. Bleibt er ungestraft? Warum hat Chefermittlerin Brorhilker hingeschmissen? Und was wusste Olaf Scholz? Ein Faktencheck.15.07.2024 | 17:51 min
    ZDFheute: War Ihnen auch klar, um welche Dimensionen es geht?
    Brorhilker: Die Dimension macht einen schon schwindelig. Konservative Schätzungen gehen davon aus, dass durch Cum-Cum- und Cum-Ex-Geschäfte insgesamt etwa 40 Milliarden Steuerschäden entstanden sind. Sozialhilfebetrug produziert nicht mal eine halbe Milliarde an Schaden. Und wie die Strafgerichte auch schon festgestellt haben, hatten die Geschäfte nahezu industriellen Charakter.
    Daran haben über Jahrzehnte eine Vielzahl von Bankinstituten teilgenommen und haben die deutschen Steuerkassen und die anderer europäischer Länder systematisch ausgeplündert.

    Das war wahrscheinlich der größte Steuerraub, der uns in Deutschland jemals passiert ist.

    Anne Brorhilker, Ehemalige Cum-Ex-Ermittlerin

    TN: Cum-Ex-Deals ohne Konsequenzen?
    Das Cum-Ex-Strafverfahren gegen den Ex-Chef der Warburg-Bank Christian Olearius wird eingestellt. Was heißt das für die Aufarbeitung des Skandals, der den Staat Milliarden kostete?24.06.2024 | 32:41 min
    ZDFheute: Warum haben Sie gekündigt?
    Brorhilker: Ich habe gemerkt, dass es für mich Sinn macht, einen Strategiewechsel vorzunehmen, dass sich Gesamtstrukturen ändern - weg von der Einzelfallbearbeitung. Bei der Staatsanwaltschaft Köln ist es zwar gelungen, mehr Personal zu bekommen, aber das gilt noch lange nicht für andere Staatsanwaltschaften.

    Der Staat ist bei der Bekämpfung von organisierter Steuerkriminalität viel zu schwach aufgestellt. Es ist mein Anliegen, dass wir da stärker werden.

    Anne Brorhilker, Co-Geschäftsführerin der Bürgerinitiative Finanzwende

    ZDFheute: Was fordern Sie konkret?
    Brorhilker: Wie brauchen mehr und besser geschultes Personal. Es gibt zu viel Personalfluktuation. Es werden immer wieder neue Leute eingesetzt, die sich wieder von vorne einarbeiten müssen. Wir müssen aufpassen, dass uns nicht die guten Leute von teuren Kanzleien weggeschnappt werden.
    Christoph Schneider aus der ZDF-Redaktion „Recht und Justiz“
    Der Strafprozess gegen den Ex-Chef der Warburg-Bank wurde eingestellt. Offen ist, was mit dessen Profiten von rund 43 Millionen Euro passiert, erklärt ZDF-Rechtsexperte Schneider.24.06.2024 | 9:03 min
    Zweitens müsste der politische Wille da sein, organisierte Steuerkriminalität wirksam und zielgerichtet zu bekämpfen. Das müsste ganz oben auf der politischen Agenda stehen. In der aktuellen Haushaltsdebatte ist davon überhaupt nicht die Rede. Da werden meines Erachtens große Einnahmequellen übersehen.
    Und wenn der Staat im Bereich der Wirtschaftskriminalität nicht genauso entschlossen vorgeht wie in anderen Kriminalitätsbereichen, sondern da mit zweierlei Maß misst, dann kann eben schnell auch das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren gehen.

    Anne Brorhilker - 2024
    Quelle: WDR Westdeutscher Rundfunk/WDR/Annika Fußwinkel/obs

    ...arbeitete lange als Oberstaatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Köln und ist eine der bekanntesten Cum-Ex-Ermittlerinnen Deutschlands. Im April 2024 ließ sie sich aus dem Beamtenstatus entlassen und ist seither Co-Geschäftsführerin der Bürgerinitiative Finanzwende.

    Quelle: ZDF/finanzwende.de

    ZDFheute: Sie arbeiten nach Ihrer Kündigung als Co-Geschäftsführerin bei der Bürgerbewegung Finanzwende, die Missstände aufdecken soll. Was wollen Sie erreichen?
    Brorhilker: Ich möchte, dass die Justiz deutschlandweit besser aufgestellt wird im Kampf gegen Finanzkriminalität, dass der Einfluss der Lobby im Justizbereich zurückgedrängt wird und dass auch Steuerhinterziehung im Millionenbereich nicht milder bestraft wird als Sozialhilfebetrug.

    Es geht darum, klarzumachen, dass ehrliche Steuerzahler von ihrer Verwaltung erwarten, dass sie das Geld aus derartigen illegalen Geschäften zurückholt.

    Anne Brorhilker, Co-Geschäftsführerin der Bürgerinitiative Finanzwende

    Eingang der Warburg-Bank in der Hamburger Innenstadt
    Es ist der größte Steuerskandal Deutschlands - bei Cum-Ex geht es um Milliarden. Der Skandal zeigt eindrücklich, wie wenig hierzulande gegen Finanzkriminalität unternommen wird.28.04.2024 | 4:01 min
    ZDFheute: Sie haben auch Cum-Cum-Geschäfte angesprochen. Was ist mit denen?
    Brorhilker: Cum-Cum-Geschäfte sind ähnlich wie Cum-Ex-Geschäfte darauf ausgerichtet, sich Steuern erstatten zu lassen, auf die man keinen Anspruch hat. Schätzungen gehen davon aus, dass der Schaden mit etwa 30 Milliarden Euro dreimal so hoch ist wie bei Cum-Ex-Geschäften.
    In die Cum-Cum-Geschäfte sind nicht nur große internationale Investmentbanken verwickelt sind, sondern auch viele kleine regionale Banken. Das ist viel weiter verbreitet als Cum-Ex-Geschäfte.

    Cum-Ex-Geschäfte sind eine Form der Steuerhinterziehung, bei der Aktien um den Stichtag der Dividendenzahlung hin und her gehandelt wurden. Mal mit (also "cum"), mal ohne ("ex") Dividendenanspruch. Dieses Vorgehen wurde so oft wiederholt, dass die Behörden nicht mehr hinterherkamen. So war es den Finanzinstitutionen möglich, sich eine einmal auf Aktiendividenden gezahlte Kapitalertragssteuer mehrfach erstatten zu lassen. Der Bundesgerichtshof hat diese Deals, bei denen den Steuerbehörden einige Milliarden Euro entgingen, als rechtswidrig eingestuft. 

    ZDFheute: Wie waren die öffentlichen Reaktionen, die Sie nach Ihrer Kündigung bekommen haben?
    Brorhilker: Ich habe viele positive Reaktionen aus der Bevölkerung bekommen. Daraus schließe ich, dass viele möchten, dass sich hier etwas ändert. Die Politik solle sich zu Herzen nehmen, dass hier strukturelle Defizite bestehen, die das Vertrauen in den Rechtsstaat untergraben können. Und die Reaktionen darauf haben mich eigentlich in meinem Empfinden bestärkt, dass das der richtige Weg ist.
    ZDFheute: Welche Reaktionen kamen aus der Politik oder der Justiz?
    Brorhilker: Aus der Justiz oder aus der Politik habe ich persönlich noch keine Reaktionen bekommen.
    Das Interview führte Ralph Goldmann, Redakteur im ZDF-Landesstudio Düsseldorf.

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    Quelle: ZDF

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