Allmendinger: Soziale Corona-Folgen "zu lange ausgeblendet"

    Interview

    Forscherin zu Corona-Maßnahmen:Soziale Folgen "viel zu lange ausgeblendet"

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    Sozialforscherin Allmendinger fordert eine Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen, auch die Bitte um Entschuldigung sei denkbar. Angst vor Vereinnahmung durch Rechte sei unbegründet.

    Ein Passant trägt eine FFP2-Maske in der Hand.
    FFP2-Maske. (Symbolbild)
    Quelle: dpa

    ZDFheute: Die Schriftstellerin Juli Zeh dringt mit weiteren Wissenschaftlerinnen auf eine Aufarbeitung der Corona-Politik. Es seien viele Fehler gemacht worden. Welchen großen Fehler sehen Sie? Welches Unrecht ist geschehen?
    Jutta Allmendinger: Zoomen wir zurück. Zu Beginn der Corona-Pandemie waren wir in einer Situation mit fehlendem Wissen und voller Unwägbarkeiten. Man wusste so gar nicht, was kommen würde. Klar war auch: Wir waren schlecht vorbereitet. Masken und Desinfektionsmittel fehlten, an Impfstoffe war zu Beginn nicht zu denken.
    Ich verstehe die damaligen frühen Reaktionen, lieber überzog man die damals bekannten Schutzmaßnahmen, als abzuwarten und sich dann dem Vorwurf auszusetzen, man hätte nicht schnell und entschlossen genug reagiert.

    Allerdings änderte sich die Lage schnell, es ergaben sich Handlungsalternativen und auch ich würde von Fehlern sprechen, die gemacht worden sind.

    Jutta Allmendinger

    Jutta Allmendinger
    Quelle: David Ausserhofer

    Jutta Allmendinger, Jahrgang 1956, ist eine deutsche Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Zu Beginn der Pandemie kritisierte sie unter anderem, Corona führe zu einem "Rückfall auf eine Rollenteilung wie zu Zeiten unserer Großeltern".

    ZDFheute: Das heißt, Sie sprechen sich für eine Aufarbeitung aus?
    Allmendinger: Ja, wir brauchen eine Aufarbeitung. Wir können und müssen viel lernen, auch für zukünftige Pandemien. Die Datenlage war schwach, dringend ist sie zu verbessern. Die Kommunikationsarbeit blieb weit unter den Standards, die wir bei der Aids-Prävention bereits erlernt hatten.
    Die sozialen Folgen der Pandemie blieben viel zu lange ausgeblendet – psychische Krankheiten, Angst, Einsamkeit, Überlastung. Ebenso die Folgen für die Bildung unserer Kinder und deren Wohlergehen. Und der Schmerz, sich nicht um Kranke und Sterbende kümmern zu dürfen. Ganz wichtig: Erschüttert wurde unser Vertrauen in die Demokratie.
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    ZDFheute: Am Anfang war die Zustimmung zu den Maßnahmen in der Bevölkerung sehr groß, im Verlauf nahm sie ab. Sehen Sie Brüche, was das gesellschaftliche Vertrauen in die Politik betrifft?
    Allmendinger: Klar. Die Bürgerinnen und Bürger sind nicht dumm und ignorant. Sie wollen aufgeklärt werden, Entscheidungen verstehen.

    Niemand konnte nachvollziehen, warum Menschen noch zur Arbeit fahren mussten, Kitas und Schulen aber geschlossen blieben.

    Jutta Allmendinger

    Niemand verstand die uneinheitlichen Regeln der Bundesländer. Viele verstanden auch nicht, warum die Wissenschaft ihre Haltung immer wieder anpassen musste, Corona war ein moving target. Wir lernten fortwährend. Auch die Wissenschaft hat schlecht kommuniziert.
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    ZDFheute: Wurde durch die Corona-Zeit die Debattenkultur verändert? Dass beispielsweise die kritische Auseinandersetzung mit den Corona-Maßnahmen schnell als Querdenkertum bewertet wurde?
    Allmendinger: Die Fronten haben sich verhärtet – und wir alle haben mitgeholfen, dass dies geschieht. Viel zu wenig erklärt, teilweise nichtssagende Statistiken benutzt und immer wieder repliziert. Die Aufarbeitung von Long Covid oder Impfschäden fand in Hinterzimmern der Krankenhäuser statt und warfen die Kranken auf sich selbst zurück.
    Viele Menschen beugten sich von oben angeordneten Maßnahmen, machten mit. Andere widerstanden dem Zwang. Da die Ungeimpften aber kollektiv in eine Schmuddelecke gestellt wurden, wurden aus zunächst individuellen Reaktionsmustern zwei gegnerische und aufeinander gehetzte Gruppen.
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    ZDFheute: Die RKI-Protokolle, die zunächst geschwärzt, dann teilweise entschwärzt, dann komplett öffentlich zur Verfügung standen, lösten Diskussionswellen aus, doch diese mündeten bis heute nicht in konkretes politisches Handeln. Warum nicht?
    Allmendinger: Wir alle strampeln, damit wir durch Krieg und harte Veränderungen unseres Lebensraums durchkommen. Wir ringen um Komplexitätsreduktion, könnte man sagen.

    Jede Form der Aufklärung tut hier gut. Eingeständnisse, etwas falsch gemacht zu haben. Auch die Bitte um Entschuldigung.

    Jutta Allmendinger

    Aber das geht nur, wenn man sich zuvor mit den damaligen Geschehnissen befasst. Ein Weiter-so gewinnt das verlorene Vertrauen nicht zurück. Insofern verstehe ich überhaupt nicht, warum hier gezögert und gleichzeitig der riesige Vertrauensverlust beklagt wird. Zumal wir ja auch sehen müssen, dass sehr viel durchaus richtig gemacht wurde. Auch das wird wohl ein Ergebnis der Aufarbeitung sein. Nicht alles war schlecht.
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    ZDFheute: Welche Form der Aufarbeitung halten Sie für die geeignete?
    Allmendinger: Wir brauchen eine kleine interdisziplinär und aus verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren zusammengesetzte Gruppe, die auf Grundlage der vielen vorliegenden Gutachten, Empfehlungen und Protokollen die damalige Situation nachstellt und bewertet. Wir brauchen ergänzend die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, um die Erfahrungswelten angemessen zu berücksichtigen. Ein Bürgerrat macht hier viel Sinn.
    ZDFheute: Es besteht die Sorge vieler Politiker, Aufarbeitung könnte von rechten Gruppen instrumentalisiert werden, kann das ein Grund sein, es doch ganz zu lassen?
    Allmendinger: Nein. Je mehr wir im Dunkeln lassen, desto höher ist die Macht extremer Gruppen und der Verschwörungstheorien, die sie verfolgen.
    Das Interview führte Britta Spiekermann, Korrespondentin im ZDF-Hauptstadtstudio.

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