Cannabis-Altfälle und Amnestie: Das große Jammern der Justiz
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Belastung durch Amnestie-Regel:Cannabis-Altfälle: Das große Justiz-Jammern
von Jan Henrich und Sebastian Langer
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Beim Thema Cannabis sprechen Justizbehörden von Überlastung, doch eine ZDFheute-Abfrage der Zahlen bringt das Bild ins Wanken. Zumindest einige Probleme scheinen hausgemacht.
Seit dem 1. April ist der Konsum und Besitz von Cannabis teilweise legal. Für Polizei und Behörden ist oft noch unklar, wie die neuen Regelungen umgesetzt werden sollen12.04.2024 | 1:37 min
Warnungen, die Justiz werde überlastet, hatten sich im Zuge der Teil-Legalisierung gehäuft. Ein Hauptgrund ist die sogenannte Amnestie-Regelung für Cannabis-Altfälle. Viele bereits gerichtlich entschiedene, aber noch nicht vollstreckte Strafen müssen erlassen werden, wenn die Taten mittlerweile legal sind. Wer also beispielsweise aktuell für den Besitz von weniger als 25 Gramm Cannabis im Gefängnis sitzt, müsste freigelassen werden.
Nach der Amnestie-Regel müssen alle zum Stichtag 1. April noch nicht vollständig vollstreckten Strafen für Cannabis-Vergehen erlassen werden, wenn die Tat nach dem neuen Recht legal ist. Die Justiz ist demnach verpflichtet, Zehntausende bereits abgeschlossene Verfahren zu überprüfen und anzupassen. Besonders aufwändig sind dabei sogenannte Mischfälle, also Fälle, bei denen Cannabis-Besitz zusammen mit anderen Delikten verurteilt wurde. Hier muss im Einzelfall eine neue Strafe festgesetzt werden.
Die Amnestie-Regelung ist allerdings keine Neuerfindung der Cannabis-Legalisierung, sondern der Normallfall, wenn Strafgesetze geändert werden. Das neue Cannabisgesetz verweist lediglich auf die anzuwendende Norm. Diese lautet folgendermaßen:
Art. 313 Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch - Noch nicht vollstreckte Strafen (1) Rechtskräftig verhängte Strafen wegen solcher Taten, die nach neuem Recht nicht mehr strafbar und auch nicht mit Geldbuße bedroht sind, werden mit Inkrafttreten des neuen Rechts erlassen, soweit sie noch nicht vollstreckt sind. (…)
Einige Bundesländer beklagen dadurch einen erheblichen Mehraufwand. Zehntausende Verfahren müsse man überprüfen. Wie viele Fälle genau betroffen sind, lässt sich auch nach Anfrage bei allen 16 Landesjustizministerien nicht genau beziffern. Allerdings gibt es große Unterschiede zwischen den Bundesländern.
190.000 Prüfungen allein in Hessen?
Besonders betroffen von der Amnestie-Regel scheint Hessen. Dort müssen nach Angaben des Landesjustizministeriums rund 190.000 Strafverfahren überprüft werden. Mit der Zahl wurde bereits im März medienwirksam vor einer überstürzten Legalisierung gewarnt.
Seit erstem April ist der Besitz und Konsum von Cannabis teilweise legal. Das Gesetz bleibt jedoch umstritten.05.04.2024 | 1:32 min
Auf Nachfrage machte die Pressestelle gegenüber ZDFheute deutlich, dass es sich um die Gesamtzahl aller laufenden Strafvollstreckungen handelt, und zwar unabhängig von der zugrundeliegenden Straftat. Das umfasst somit etwa auch Diebstähle oder Körperverletzungen. Man müsse alle Verfahren überprüfen, denn es könne theoretisch auch ein Cannabis-Delikt im Urteil eine Rolle spielen. In anderen Bundesländern sind die Angaben differenzierter.
Bremen hat Durchsicht bereits abgeschlossen
Wie viele Fälle konkret von der Amnestie-Regelung betroffen sind, zeigen Zahlen aus Bremen. Dort scheint die Justiz die Durchsicht ihrer Cannabis-Altfälle bereits abgeschlossen zu haben. Insgesamt 531 Vollstreckungssachen habe man überprüft. In 58 Fällen müssten neue Gesamtstrafen gebildet werden, 63 noch nicht vollstreckte Geldstrafen habe man erlassen. Den Fall, dass aufgrund der Amnestie-Regelung eine Person aus der Haft entlassen werden musste, gab es dort bislang nicht.
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Es sind größtenteils Geldstrafen, die im Zuge der Cannabis-Legalisierung erlassen werden. Doch auch einige Gefängnis-Insassen kommen auf freien Fuß. Im Saarland, in Sachsen-Anhalt und Berlin gab es bislang jeweils einen solchen Fall im Erwachsenenstrafrecht. Mehr Fälle verzeichnet Bayern mit 24 entlassenen Gefangenen.
Baden-Württemberg: 21
Bayern: 24
Berlin: 1
Brandenburg: 4
Bremen: 0
Hamburg: 0
Hessen: keine Angabe
Mecklenburg-Vorpommern: 0
Niedersachsen: 2
Nordrhein-Westfalen: keine Angabe
Rheinland-Pfalz: 11
Saarland: 1
Sachsen: 12
Schleswig-Holstein: keine Angabe
Thüringen: keine Angabe
Stand 9.4. - ohne Jugendstrafrecht / Quelle: Anfrage bei Landesjustizministerien
Sogenannte Mischfälle scheinen noch nicht darunter. Die Freilassungen betreffen bislang vor allem Personen, die ausschließlich aufgrund einer Tat verurteilt wurden, die mittlerweile legal ist, also der Besitz oder Anbau kleiner Mengen Cannabis.
Nur wenig Digitalisierung im Strafvollzug
Dass der Umgang mit Cannabis-Altfällen die Justiz in einigen Bundesländern an die Belastungsgrenze bringt, scheint auch mit dem Stand der Digitalisierung zusammenzuhängen. Eine zielgenaue elektronische Suche nach den für die Amnestie in Frage kommenden Fällen scheint in keinem Bundesland möglich.
Häufig lässt sich bei den Datenbeständen der Staatsanwaltschaften nur herauslesen, ob es sich bei einem Fall um ein Rauschgiftdelikt handelt, nicht aber, welche Droge dabei eine Rolle spielte. Das hessische Justizministerium argumentiert mit der "Verpflichtung staatlicher Stellen, Daten nur in dem begrenzten Umfang zu speichern". Datenschutz ist also der Grund, dass Juristen Zehntausende Akten händisch durchwälzen müssen.
Zu wenig Vorbereitungszeit für Prüfung von Altfällen?
Ein Kritikpunkt der Justiz in Richtung Politik ist die mangelnde Vorbereitungszeit. Zu schnell habe man die Legalisierung durchdrücken wollen. Aus dem Justizministerium Thüringen heißt es auf ZDFheute-Anfrage, außer Vorarbeiten habe man bis zur finalen Sitzung im Bundesrat am 22. März nicht mit den konkreten Prüfungen anfangen können. Nur rund eine Woche für die Umsetzung des Cannabis-Gesetzes scheint tatsächlich nicht viel.
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Doch die Aussage verwundert, denn in anderen Bundesländern hatte die Justiz bereits vor Monaten mit den Prüfungen begonnen. Genauer gesagt: kurz nach der Abstimmung des Bundestages in erster Lesung des Gesetzes.
Die Legalisierung wurde zwar auch danach und bis zuletzt noch heiß diskutiert. Dass der Bundesrat tatsächlich ein Einspruchsgesetz stoppt, kommt statistisch allerdings nur sehr selten vor. In der gesamten vergangenen Legislaturperiode wurde nur in vier Fällen der Vermittlungsausschuss angerufen. Auch damit hätte man rechnen können.