Historiker Neitzel: "Die Bundeswehr ist nicht kriegstüchtig"

    Interview

    Historiker Sönke Neitzel:"Die Bundeswehr ist nicht kriegstüchtig"

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    "Wir müssen kriegstüchtig werden": Mit diesem Satz sorgte Minister Pistorius für Aufsehen. Ist Deutschland verteidigungsfähig? "Nein", sagt Historiker Neitzel - und fordert Tempo.

    Boris Pistorius
    Ein Jahr ist Boris Pistorius nun im Amt. Mit seiner Forderung, Bundeswehr und Gesellschaft müssten "kriegstüchtig" werden, sorgte er für Furore.
    Quelle: dpa

    ZDFheute: Minister Pistorius sagt, wir hätten noch fünf bis acht Jahre, uns auf einen möglichen Angriff Putins auf einen Nato-Staat vorzubereiten. Was sagen Sie?
    Sönke Neitzel: In einem solchen Fall müsste die Bundeswehr kämpfen.

    Wir können nicht ausschließen, dass wir einen zwischenstaatlichen Krieg haben mit Tausenden von Toten. Und darauf müssen wir uns vorbereiten.

    Die Experten sagen fünf bis acht Jahre. Aber das ist eine rationale Kalkulation. Ist Putin so rational? Wartet Putin, bis wir verteidigungsbereit sind? Möglicherweise nicht. Und möglicherweise gibt es ein solches Szenario schon in drei Jahren. Wer will das ausschließen? Also, die Zeit läuft uns davon.
    ZDFheute: Ist die Bundeswehr derzeit kriegstüchtig beziehungsweise verteidigungsfähig?
    Neitzel: Wenn wir mal den Krieg in der Ukraine als Grundlage nehmen, wäre die Bundesrepublik Deutschland in einem solchen Szenario bereit? Da kann man sagen: Nein, wir sind nicht kriegstüchtig. Soldaten würden kämpfen, die Bundeswehr würde in die Schlacht ziehen, wenn sie den Befehl bekäme, sie würde Litauen verteidigen.
    Aber wir haben viel zu wenig Munition. Es gibt viel zu wenig Ausrüstung, der Trainingszustand und so weiter. In einem solchen Szenario, wie wir es gerade erleben, dafür sind wir nicht vorbereitet. (…)
    • Bundeswehr bei Ausrüstung weiter blank
    Der Zustand der Bundeswehr ist im letzten Jahr, in den letzten zwei Jahren nicht besser geworden, weil wir zu wenig produzieren, weil wir sehr viel an die Ukraine abgeben müssen.

    Die Bundeswehr ist nicht kriegstüchtig geworden. Das ist der Lage geschuldet. Aber wir müssen einfach Tempo machen.

    Sönke Neitzel, Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte an der Universität Potsdam; Dresden; 13.11.2022
    Quelle: dpa

    ... ist Militärhistoriker und Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Uni Potsdam. Davor lehrte er unter anderem an der University of Glasgow und der London School of Economics. Sein Forschungsschwerpunkt liegt unter anderem bei der Militär- und Gewaltgeschichte der Moderne.

    ZDFheute: Was tut Not? Die Bundeswehr muss sich nun ganz umstellen auf Landes- und Bündnisverteidigung?
    Neitzel: Wir können von Pistorius nicht erwarten, dass er innerhalb von einer Jahresfrist diese Bundeswehr völlig vom Kopf auf die Füße stellt. Was wir erwarten können, ist, dass er Entscheidungen trifft. Mutige, große Reformentscheidungen, die sich dann in den nächsten Jahren oder gar Jahrzehnten auswirken. Daran müssen wir ihn messen: Geht er in die Hart-Ruderanlage, trifft er jetzt Entscheidungen, damit sich der Tanker in die richtige Richtung drehen kann?

    Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius steht am Abend dem heute journal Rede und Antwort. Die Sendung beginnt um 21.45 Uhr.

    ZDFheute: Alles Gerät nützt ja nichts ohne eine mentale Zeitenwende in den Köpfen. Erkennen Sie die?
    Neitzel: Ich beobachte, dass jeder wieder seine kleinen Partikularinteressen hat. Ich sehe nicht, dass ein Ruck durch dieses Land geht, dass wir sagen: Wir brauchen kriegstüchtige Streitkräfte, wir brauchen eine zivilgesellschaftliche Resilienz, Stichwort Polizei, Cyber-Abwehr und so weiter, und da gehen wir gemeinsam voran.

    Es geht eben nicht um eine Behörde, es geht nicht um eine Partei, es geht nicht um eine Fraktion. Es geht ums Land.

    ZDFheute: Wie könnte denn in der Bevölkerung ein solches Umdenken vorangetrieben werden?
    Neitzel: Was wir erwarten müssen, ist, dass Politik klar kommuniziert, klare Entscheidungen trifft und die klar begründet. Und dann wird eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung mitgehen. Also den Ball an die Bevölkerung zu spielen und zu sagen, das muss die Bevölkerung jetzt doch mal einsehen, das muss ihr bewusst sein ... nein, das ist ein Top-down-Prozess. Regierung und Parlament müssen aus ihrer Erkenntnis heraus Ansagen machen, was notwendig ist. Das müssen sie begründen und kommunizieren, dafür müssen sie werben. Und dann wird - siehe Zeitenwende-Rede von Scholz - die Mehrheit folgen. Aber genau das erfolgt eben nicht.
    ZDFheute: Pistorius stößt mit seiner Forderung nach Kriegstüchtigkeit ja auf Widerstand auch in der eigenen Partei ...
    Neitzel: Das eigentliche Problem für Pistorius ist der linke Flügel der SPD. Herr Mützenich, Herr Stegner, Frau Esken. [...] Und da steht ja ein bestimmtes Milieu dahinter, das nach wie vor von seinen Vorstellungen von Frieden, Abrüstung, Diplomatie nicht lassen will. Und das sich beharrlich weigert, die Welt so zu sehen, wie sie ist. [...]

    Ich glaube, dass in der Frage Kriegstüchtigkeit die SPD und ihre rosaroten Weltsichten das größte Problem sind.

    Das Interview führte ZDF-Hauptstadtkorrespondentin Ines Trams.

    Verteidigungsminister
    :Ein Jahr im Amt: Wann liefert Pistorius?

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    von Ines Trams
    Boris Pistoriu
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