Thema Armut: "Wenn wir uns nicht kümmern, tun es andere"
Thema Armut im Wahlkampf:"Wenn wir uns nicht kümmern, tun es andere"
von Kristina Hofmann
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Bürgergeld, Migration, Jobs: All das sind Themen im Wahlkampf, die alle zusammen hängen. Doch die Menschen, die sie betreffen, fühlen sich kaum gehört. Ein Besuch in der Arche.
Kinder stehen vor einem Schaufenster mit Spielzeug. Mehr als zwei Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von Armut bedroht.
Quelle: dpa
Dass Wahlen bevorstehen, merken sie in der Arche Marzahn-Hellersdorf ohne Kalender. Dann fragen Parteien wieder an, ob ihre Spitzenkandidaten in die Berliner Einrichtung des christlichen Kinder- und Jugendwerkes vorbeikommen können. Ein bisschen reden, über sozial Benachteiligte, über Armut und so. Legendär die beiden Tischtennisschläger, die einst FDP-Chef Christian Lindner als Geschenk vorbeibrachte. Oder Familienministerin Lisa Paus (Grüne), die zuerst nur ein Foto wollte.
Jetzt ist wieder Politiker-Saison in den bundesweit 30 Standorten der Arche. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke), CDU-Direktkandidat Mario Czaja in Marzahn-Hellersdorf: "Die Besuchsrate ist hoch", sagt Arche-Sprecher Wolfgang Büscher, der dies eigentlich gut findet. Und doch seien die Gespräche oft enttäuschend.
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Schätzung: Neun von zehn wollen AfD wählen
Bürgergeld, Migration, Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze: Das sind die Themen dieses Wahlkampfs vor der Bundestagswahl. Und es sind die Themen, die alle Familien betreffen, die ihre Kinder in die Arche schicken. Sieben Einrichtungen sind es allein in Berlin. 800 Mittagessen werden hier an die Kinder und Jugendlichen jeden Tag ausgegeben, die zuhause vermutlich nichts Warmes bekommen würden. Aus unterschiedlichen Gründen.
Viele Eltern, die ihre Kinder in die Arche schicken und am 23. Februar wählen dürfen, hoffen auf die AfD. Neun von zehn, schätzt Büscher, wollen rechts wählen. Viele schlicht aus Angst: "Die nehmen uns die Arbeit weg", sagen auch die, die selbst schon lange nicht mehr einen Job hatten. Die nehmen uns die Wohnung weg, das Geld, sagen sie. Die, das sind die Menschen, die als Geflüchtete kamen oder keinen deutschen Pass haben.
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1:1-Begleitung nicht für jedes Kind machbar
Miriam Börner ist seit mehr als sechs Jahren Erzieherin in der Arche. Die 33-Jährige leitet den Jugendbereich. Im Schnitt kommen täglich bis zu 70 13- bis 18-Jährige vorbei. Spielen zusammen, machen Sport, bekommen Hilfe bei den Hausaufgaben, können ihre Probleme los werden. "Hi Miri" kommt es von allen Seiten, wenn sie Börner sehen. Eine kurze Umarmung bekommt jeder, die Kleinen und die Großen.
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Eigentlich, sagt sie, braucht jeder von ihnen eine 1:1-Begleitung. Doch das schaffen die Mitarbeitenden nicht. Kinder stark machen, ausbilden, damit sie sich selbst aus dem Armuts-Kreislauf befreien können, das versuchen sie in der Arche. Oft gelingt es: Jugendliche, die einen Schulabschluss machen, eine Ausbildung beginnen, sogar das Abitur. Einen Schutzraum sollen sie dort in dem früheren Schulgebäude haben, auch um Konflikte auszutragen. "Besser sie machen es hier", sagt Miriam Börner.
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Probleme: Drogen, Waffen, Clans
In der Arche Marzahn-Hellersdorf hat die Hälfte der Kinder eine Migrationsgeschichte, sie kommen aus 60 verschiedenen Nationen. Natürlich gibt es Streit. Die meisten gehen auf Brennpunktschulen. "Das ist ein massives Problem", sagt Börner. Auch Drogen und Waffen sind es, inzwischen viel mehr als Alkohol. Es gibt Clans, die die Jugendlichen ansprechen. Manche fühlen sich vor die Wahl gestellt: fressen oder gefressen werden.
"Wenn wir uns nicht kümmern, tun es andere", fasst Büscher eine Erfahrung zusammen, die sie dort seit langem kennen. Miriam Börner sagt es so:
Aber die Folge müsse nicht zwangsläufig Kriminalität sein. Alle Kinder hätten eine Geschichte, Kriegstraumata auch, und um diese gehe es. "Es geht nicht um Zahlen, es geht um Menschen." Das fehle ihr manchmal im Wahlkampf.
Die FDP-Fraktion sieht die Vorschläge der Union für eine schärfere Migrationspolitik positiv - und will noch einen Schritt weitergehen. Alle News im Wahlkampf-Ticker.
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Bürgergeld für die, die es wirklich brauchen
Die Diskussionen über Politik sind auch in der Arche in den vergangenen Wochen mehr geworden. Der junge Mann, der schon als kleiner Junge kam, hatte damals eine klare Meinung: "Ich bin nicht arm, wir haben nur kein Geld."
Inzwischen geht er in die elfte Klasse, nach dem Schulabschluss möchte er zur Bundeswehr. Ein sicherer Job, sagt er. Er findet, es müssten mehr die Menschen unterstützt werden, die wirklich Hilfe brauchen. "Darauf sollte Politik mehr achten."
Das sieht auch Sprecher Büscher so.
Also müssten diejenigen, die arbeiten könnten, besser gefördert und begleitet werden. Es sollte, so Büscher, ein gestaffeltes Bürgergeld geben. "Damit helfen wir denjenigen, die wirklich in Not sind, vor allem den alleinerziehenden Müttern."
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Echte Integration kaum Thema im Wahlkampf
Vorigen Sommer hatte die Arche einen Hilferuf gestartet: Entweder die Politik kümmert sich besser um die Menschen mit Migrationsgeschichte und integriert sie wirklich - oder man muss die Grenzen schließen. Die Arche schaffe die Integration nicht mehr, brauche zu viel Personal und Geld dafür, um sie am Ende in die Gesellschaft, in den Arbeitsmarkt einzubinden.
Viele, sagt Büscher, hätten ihm Recht gegeben. Aber lieber nur hinter vorgehaltener Hand. Jetzt, im Wahlkampf, traue sich auch niemand, für echte Integration und Bildung einzutreten. Beides kaum Themen, mit denen man punkten kann.
Es ist doch eine "Todsünde", findet Büscher, Menschen ins Land zu holen und sie dann nicht zu integrieren. "Das ist doch verrückt."
Was in den Wahlprogramm zum Bürgergeld steht
Die SPD will das Bürgergeld beibehalten, auch das Prinzip des Forderns. Es sei kein bedingungsloses Grundeinkommen, heißt es im Wahlprogramm, es wird Mitwirkung gefordert. Menschen sollen durch Qualifizierung und Weiterbildung unterstützt werden.
Deswegen sollen Jobcenter finanziell und personell besser ausgestattet werden.
Wer aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten kann, soll besser im Betreuungs- unhd Integrationsprozess unterstützt werden.
Die Union will das Bürgergeld abschaffen und durch eine neue Grundsicherung ersetzen. Wer arbeiten kann, muss arbeiten, sonst sollen die Leistungen vom Staat wegfallen. Es soll bei den knapp 50 Milliarden Euro, die derzeit der Staat pro Jahr für das Bürgergeld ausgibt, gespart werden.
Die Hinzuverdienstgrenzen sollen steigen. Die Jobcenter sollen den Fokus auf die Vermittlung von Arbeitssuchenden legen, Mitwirkungspflichten sollen konsequenter eingefordert, Karenzzeiten abgeschafft werden.
Neu ankommende Menschen aus der Ukraine sollen kein Bürgergeld mehr bekommen, sondern weniger Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Menschen, die Bürgeld beziehen, sollen mehr Anreize bekommen, eine Arbeit aufzunehmen. So sollen etwa niedrige Einkommen durch eine Steuergutschrift entlastet werden.
Die aktive Mitwirkung wird gefordert, die Unterstützung durch Qualifizierung, Ausbildung und Weiterbildung gefördert. Menschen sollen so lange "existenz- und teilhabesichernde Leistungen" erhalten, bis sie in Arbeit sind.
Die Beiträge der Bürgergeld-Bezieher in die Sozial- und Pflegeversicherung soll "angemessener" der Staat finanzieren, um die Kassen zu entlasten.
Das Bürgergeld soll "hin zu mehr Aktivierung" reformiert werden: Erwerbsfähige Arbeitslose müssen Eigeninitiative nachweisen, bei fehlender Initiative wird das Bürgergeld schrittweise reduziert.
Der Grundfreibetrag soll schrittweise um mindestens 1.000 Euro angehoben werden.
Zumutbarkeitsregeln sollen geändert werden: Künftig sollen längere Pendelstrecken und Umzüge für Menschen ohne Kinder und ohne pflegebedürftigen Angehörigen möglich sein.
Das Bürgergeld soll zu einer "aktivierenden Grundsicherung" umgebaut werden.
Das Bürgergeld soll "unattraktiver" gemacht werden. Es sollen nur deutsche Staatsbürger und EU-Bürger bekommen, die sich legal in Deutschland aufhalten.
Ausländische Bürger in Deutschland sollen erst Anspruch auf Bürgergeld haben, wenn sie zehn Jahre lang sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Bürgergeldbezieher, die arbeiten können, sollen nach sechs Monaten zu gemeinnütziger Arbeit verpflichtet werden.
Die Regelsätze des Bürgergeldes sollen auf mindestens 813 Euro steigen.
Das Bürgergeld soll zu einer "sanktionsfreien Mindestsicherung" umgebaut werden. Anspruch sollen alle haben, die kein ausreichendes Einkommen oder Vermögen haben. Die Höhe soll sich an der Armutsgefährdungsgrenze bemessen, derzeit 1.400 Euro monatlich für Alleinstehende inklusive Miete und Wohnkosten.
Das Elterngeld soll nicht mehr auf das Bürgergeld und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz angerechnet werden.
Das Bürgergeld soll abgeschafft und durch eine "leistungsgerechte" Arbeitslosenversicherung und faire Grundsicherung ersetzt werden. Langjährige Einzahler in die Arbeitslosigkeit sollen solange 60 Prozent ihres letzten Nettogehalts bekommen, bis ihnen eine zumutbare Beschäftigung angeboten wird.
Gleichzeitiger Bezug von Bürgergeld und Schwarzarbeit soll unterbunden werden, es soll mehr Kontrollen geben.
Bürgergeld dürfe nicht zur "Flüchtlingskasse" werden, heißt es im Programm.
Quelle: dpa
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