Biodiversität und Artensterben in Deutschland

    Erster Bericht zur Artenvielfalt:Lebensgrundlagen auch in Deutschland bedroht

    von Elisa Miebach
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    Weltweit sind eine Millionen Arten vom Aussterben bedroht, ein "Massenaussterben", so Forscher. Doch zur Lage in Deutschland gab es keinen systematischen Überblick - bis jetzt.

    Ein Fischkutter auf der Nordsee. Archivbild
    Überfischung ist eine der Gefahren für die Natur in Deutschland. (Symbolbild)
    Quelle: Carsten Rehder/dpa

    Sie sind der Grund für sauberes Wasser, saubere Luft, reife Früchte und fruchtbare Böden: stabile Ökosysteme. Doch der Druck auf sie steigt und gefährdet damit die Lebensgrundlagen der Menschen.
    Mehr als die Hälfte der Lebensraumtypen Deutschlands ist in keinem guten Zustand, konstatiert nun der erste große Faktencheck zur Artenvielfalt. Mehr als ein Drittel der untersuchten Arten hierzulande sind gefährdet. Dabei ist Artenvielfalt die Grundlage jedes stabilen Ökosystems.

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    Sandra Diaz, Co-Vorsitzende des globalen Berichtes des Weltbiodiversitätsrates (IPBES)

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    Es ist das erste Mal, dass in Deutschland rund 150 Forschende systematisch die Artenvielfalt erfassen, finanziert vom Forschungsministerium. Das Ziel: nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu zeigen, was getan werden kann.
    Im Bericht finden sich auch ein paar Zahlen zu positiven Entwicklungen:

    • 2.290 erwachsene Kegelrobben wurden 2022 in der Nordsee gezählt. In den 1980er Jahren waren sie durch die mittlerweile verbotene Jagd fast ausgerottet.
    • 7.000 Hektar Überflutungsfläche wurden in den vergangenen 20 Jahren durch Renaturierungen wieder hergestellt - wichtig für die Biodiversität und den Hochwasserschutz.
    • 96% der in der Studie befragten Kommunen haben urbane Blühflächen eingerichtet - ein kleiner, aber oft lebensrettender Beitrag für die Vielfalt von Insekten.

    Doch im Großen und Ganzen steht es nicht gut um die Artenvielfalt in Deutschland. Die Hauptgründe dafür sind:
    • Intensivierung der Landwirtschaft
    • Versiegelung von Flächen in Städten
    • Monokulturen in Wäldern
    • Intensive Fischerei, Schifffahrt und Baustellen im Meer
    • Verschmutzung durch Abwässer, Mikroplastik und Schwermetalle
    • Abgase und Schadstoffe in der Luft
    • Gestörte Nährstoffkreisläufe, etwa durch Überdüngung und zu hohe Nitratwerte
    • Invasive Arten
    • Veränderung der Lebensräume durch den Klimawandel
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    Die sogenannten Treiber des Massenaussterbens können einander auch verstärken. Bienen und andere Bestäuber zum Beispiel werden durch Pestizide intensiver geschwächt, wenn sie in Monokulturen statt in vielfältigen Blütenlandschaften leben.

    Besonders gefährdet: Äcker, Moore und Gewässer

    Besonders schlecht steht es in Deutschland um das offene Grünland, ehemals artenreiche Äcker und Moore. In 40 Jahren sind hier allein die Populationen von Vögeln um mehr als die Hälfte zurückgegangen. 30.000 Tonnen Pflanzenschutzmittel landen laut Bericht jährlich auf den Böden in Deutschland und schädigen dort Bodenlebewesen, Bestäuber und andere Nützlinge.
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    Darüber hinaus sind nur zehn Prozent der Flüsse, Seen und Küstengewässer in Deutschland in einem guten ökologischen Zustand. Flussbegradigungen, Uferbefestigung und die Entfernung von Ufergehölzen haben die Ökosysteme an Binnengewässern belastet. Darüber hinaus sind die Meeres- und Küstengebiete der Ost- und Nordsee stark gefährdet. Manche Lebensräume sind hier bereits vollständig vernichtet, etwa Seegraswiesen auf ebenem Sandgrund sowie Bänke der Europäischen Auster.

    Funktionierende Ökosysteme bilden die Lebensgrundlage der Menschen, zeigt auch der Faktencheck Artenvielfalt. Sie sorgen nicht nur dafür, dass Nährstoffe aus dem Boden in unsere Lebensmittel gelangen und Blüten bestäubt werden. Auch für den Klimaschutz sind sie wichtig: Gesunde Böden, Wälder, Moore und Meere nehmen viel CO2 auf.

    Vor den Folgen des Klimawandels, etwa Hoch- oder Niedrigwasser, schützen Auen, Sümpfe und andere Gebiete, in die Starkregen abfließen kann und gespeichert wird. Der Bericht weist auch auf, dass eine intakte Natur die mentale Gesundheit und das Wohlbefinden steigert und sogar Heimatgefühle oft mit der Natur verknüpft sind.

    Biodiversität: Trendwenden geben Hoffnung

    Während sich die Situation insgesamt in den letzten Jahrzehnten meist verschlechtert hat, hätten einige Gesetze oft aus der jüngeren Vergangenheit aber auch zu Trendwenden geführt. Eine stärkere Abwasserreinigung führt zu einer besseren Qualität vieler Flüsse. Weniger Monokulturen und mehr Totholz stärken die Wälder und ließen auch Waldvögel zurückkommen. Umstellungen auf ökologische Landwirtschaft, Wiedervernässung von Mooren und Pflege von Wildblumenwiesen steuern dem Insektensterben entgegen. Und auch auf dem Meer gibt es nachhaltigere Ansätze, wie etwa die bestandserhaltende Fischerei.
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    Doch es müsse sich mehr tun, fordern die Forschenden. Eine weniger intensive Nutzung von Land, Wasser und Meer sei gefragt. Das bedeute nicht immer riesige Schutzzonen. Für die Ausweitung von Schutzgebieten, sei es oft günstiger, viele kleine statt weniger großer Schutzgebiete anzulegen, empfiehlt der Bericht.

    Jedes Engagement, sei es den eigenen Garten ein bisschen naturnäher umzugestalten, auch einfach mal etwas sein lassen, vielleicht ein bisschen mehr Wildnis zuzulassen, kann sich durchaus lohnen.

    Marion Mehring, Leitautorin des Berichts

    Es gibt bereits internationale Verpflichtungen, etwa das UN-Abkommen von Montreal, in dem sich die Welt verpflichtet hat, 30 Prozent der Erde unter Schutz zu stellen. Doch diese müssten noch verbindlicher im nationalen Recht umgesetzt werden, so die Wissenschaftler. Sie fordern eine Verankerung auch auf Verfassungsebene.
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    Forschung zur Artenvielfalt: Bessere Datengrundlagen gefordert

    Die Autorinnen und Autoren des Berichts zeigen auch auf, es brauche ein standardisiertes Verfahren zur Erfassung der biologischen Vielfalt. Oft fehlten Datengrundlagen. Viele Artenzählungen würden zum Beispiel nur ehrenamtlich durchgeführt. Nur etwa 40 Prozent der Arten in Deutschland seien überhaupt auf eine mögliche Gefährdung hin erforscht. Besonders dunkel sieht es etwa für die Böden aus - aufgrund fehlender Daten seien Aussagen zum Stand der biologischen Vielfalt des Bodens kaum möglich, so der Bericht.
    Die Wissenschaft hofft auf eine Fortschreibung: "Der Faktencheck Artenvielfalt ist sicherlich beispielgebend und setzt einen sehr hohen Standard für künftige nationale Assessments", sagt Sandra Diaz, Co-Vorsitzende des internationalen Berichts des Weltbiodiversitätsrats (IPBES).
    Elisa Miebach ist Reporterin der Umweltredaktion.
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