Die Definition des BKA erklärt :Was hinter den Zahlen zu Messerdelikten steckt
von Kevin Schubert
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AfD-Chefin Alice Weidel kritisiert im ZDF-Sommerinterview die Zahl an Messerdelikten, sie spricht von 15.000. Was verstehen Experten darunter?
Von der Polizei sichergestellte Stichwaffen in Nordrhein-Westfalen (Symbolbild).
Quelle: dpa
Im ZDF-Sommerinterview hat AfD-Chefin Alice Weidel von 15.000 Messerdelikten im vergangenen Jahr gesprochen. Auf X korrigierte Weidel die Zahl am Montag, sprach von 13.844 Fällen von "Messergewalt", einem "Rekordwert".
Auch ZDFheute hat sich korrigiert. In einer ersten Version des Faktenchecks zum Sommerinterview wurde die Zahl der Raubdelikte, bei denen ein Messer verwendet wurde, nicht erwähnt.
Experten ordnen diese Zahl für ZDFheute ein - und erklären, wie sie zustande kommt.
Das ZDF-Sommerinterview mit Alice Weidel in ganzer Länge.07.07.2024 | 20:18 min
Wie das Bundeskriminalamt auf 13.844 Messerangriffe kommt
Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) weist für 2023 8.951 Messerangriffe im Zusammenhang mit gefährlicher und schwerer Körperverletzung aus, im Jahr 2022 waren es 8.160 Fälle. Bei Raubdelikten hat die Polizei 4.893 Messerdelikte erfasst (2023), nach 4.195 Fällen im Vorjahr.
Daraus ergeben sich in Summe 13.844 Messerangriffe.
Mit drei Landtagswahlen im September stehen für die AfD wohl ihre bisher wichtigsten Wahlen an. Doch die ein oder andere Grundsatzdebatte ist noch nicht geklärt.07.07.2024 | 2:49 min
Zu beachten ist allerdings, dass das Bundeskriminalamt Messerangriffe erst seit 2021 erfasst. Ein bundesweit einheitliches Lagebild soll erstmals für 2024 erstellt werden. "Verlässliche, also seit Jahren erhobene Zahlen, gibt es bislang nur aus einzelnen Bundesländern", sagt der Journalismus-Professor Thomas Hestermann, der an der Hamburger Hochschule Macromedia zur Darstellung von Kriminalität forscht.
Die PKS ist eine sogenannte Ausgangsstatistik. Das bedeutet, dass in ihr die der Polizei bekannt gewordenen und durch sie endbearbeiteten Straftaten, einschließlich der mit Strafe bedrohten Versuche und der vom Zoll bearbeiteten Rauschgiftdelikte, abgebildet werden und eine statistische Erfassung erst bei Abgabe an die Staatsanwaltschaft erfolgt. Dabei ist zu beachten, dass die Zahlen auch durch das Anzeigeverhalten in der Bevölkerung beeinflusst werden und neben dem "Hellfeld" ein "Dunkelfeld" nicht erfasster Straftaten bleibt.
Nicht enthalten sind Staatsschutzdelikte, Verkehrsdelikte (mit Ausnahme der Verstöße gegen §§ 315, 315b StGB und § 22a StVG), Straftaten, die außerhalb der Bundesrepublik Deutschland begangen wurden, Ordnungswidrigkeiten und Verstöße gegen strafrechtliche Landesgesetze, mit Ausnahme der einschlägigen Vorschriften in den Landesdatenschutzgesetzen.
Delikte, die nicht zum Aufgabenbereich der Polizei gehören (z.B. Finanz- und Steuerdelikte) bzw. unmittelbar bei der Staatsanwaltschaft angezeigt und ausschließlich von ihr bearbeitet werden (z.B. Aussagedelikte), sind ebenfalls nicht in der PKS enthalten.
Die PKS trifft auch keine Aussage darüber, welchen Verlauf das bei den Justizbehörden in Gang gesetzte Verfahren nimmt, ob also eine Verurteilung erfolgt. Es sind daher auch Fälle beinhaltet, in denen das Verfahren durch die Staatsanwaltschaft eingestellt wurde oder es zu einem Freispruch durch das Gericht gekommen ist.
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2023
Wie definiert das Bundeskriminalamt "Messerangriffe"?
In der Polizeilichen Kriminalstatistik sind "Messerangriffe" Tathandlungen, bei denen der Angriff mit einem Messer unmittelbar gegen eine Person ausgeführt oder angedroht wird. Als Messerdelikt gilt also auch, "wenn jemand sein Messer nur zeigt und damit Furcht auslöst", erklärt Thomas Hestermann.
Das Mitführen eines Messers reicht dagegen nach Definition des Bundeskriminalamts nicht für eine Erfassung als Messerangriff aus.
Entsetzen über tödlichen Messerangriff: Der Polizist, der bei der Attacke in Mannheim schwer verletzt wurde, ist verstorben.03.06.2024 | 21:38 min
Welche Zahlen gibt es aus den Bundesländern?
Unter anderem das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen führt Straftaten, die mit Messern begangen worden sind, seit einigen Jahren explizit aus. Was zeigen die Zahlen des bevölkerungsreichsten Bundeslandes?
Erfasste Straftaten mit dem Tatmittel Messer
Opferdelikte mit Tatmittel Messer
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Tatverdächtige setzen Messer bei einer ganzen Reihe von Straftaten ein. Thomas Hestermann weist darauf hin, dass Messer zu den Waffen gehören, "die besonders leicht zugänglich und unauffällig zu tragen sind und zugleich tödliche Verletzungen anrichten können".
Hestermann plädiert deshalb für Präventionsprogramme wie "Messer machen Mörder" der Berliner Polizei, um für das Thema Messergewalt zu sensibilisieren. Das Ziel solcher Kampagnen: Schülerinnen und Schülern deutlich machen, dass Messer einen Konflikt auf ein Niveau heben, bei dem es rasch um Leben und Tod gehe.
Vereinzelt gibt es bereits Zahlen zu Messerangriffen in Nordrhein-Westfalen für 2023. Sie gehen aus einem Bericht des Innenministeriums des Landes NRW an den Innenausschuss hervor. Demnach gab es 2023 insgesamt 6.221 Opferdelikte mit Messern oder sonstigen Stichwaffen - ein Anstieg um fast 50 Prozent im Vergleich zu 2022 (4.191). Dabei wurden insgesamt 8.036 Opfer erfasst (2022: 5.420).
Wir zeigen in unseren Grafiken verschiedene Dimensionen von Opferdelikten mit Messern - etwa die Herkunft der Tatverdächtigen, die Beziehung zwischen Opfern und Tatverdächtigen und den Verletzungsgrad der Tatverdächtigen. Vollständig liegen diese Daten, die mehr in die Tiefe gehen, nur für das Jahr 2022 vor. Sie stammen aus dem "PKS Jahrbuch 2022", während das "PKS Jahrbuch 2023" mit allen Daten für 2023 nach Angaben des Innenministeriums in Düsseldorf erst im dritten oder vierten Quartal 2024 veröffentlicht wird.
Zur besseren Vergleichbarkeit haben wir uns deshalb für die Zahlen aus dem Jahr 2022 entschieden.
Erfasste Verletzungen bei Opfern von Messerangriffen
Verletzungen bei Opfern von Messerangriffen
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Die Kriminalstatistik der Berliner Polizei zeigt: In gut 90 Prozent der Fälle werden die Opfer von Messerangriffen leicht oder nicht verletzt. Psychische Folgen werden hier allerdings nicht erfasst.
Beziehung zwischen Opfern und Tatverdächtigen bei Messerangriffen
Beziehung zwischen Opfern und Tatverdächtigen bei Messerangriffen
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Wie auch bei Sexualdelikten oder Morden kommt es vergleichsweise selten zu willkürlichen Angriffen im öffentlichen Raum. Die meisten Opfer und Tatverdächtigen stehen in einer zwischenmenschlichen Beziehung zueinander.
Erfasste Tatverdächtige bei Messerangriffen
Herkunft von Tatverdächtigen bei Messerangriffen
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Laut Landesbetrieb Information und Technik des Landes Nordrhein-Westfalen haben im Jahr 2023 insgesamt 2.828.367 nichtdeutsche Menschen in NRW gelebt, darunter 1.442.222 Männer und 1.386.145 Frauen. Damit hat die nichtdeutsche Bevölkerung im Jahr 2022 15,6 Prozent der Gesamtbevölkerung Nordrhein-Westfalens ausgemacht. Grundlage dieser Zahlen ist die Bevölkerungsfortschreibung auf Basis des Zensus vom 9. Mai 2011.
Der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger bei Messerangriffen ist damit deutlich höher als es dem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Kriminologen warnen jedoch davor, Gewalttaten mit der Herkunft von Tatverdächtigen zu begründen.
Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Frankfurter Goethe-Universität, nennt andere Faktoren, auf die es stattdessen ankomme: etwa die sozialen Lebensumstände sowie Alter- und Geschlechtsstrukturen, die sich in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterscheiden können.
Laut Lehrergewerkschaft GEW haben 95 Prozent der Lehrer an Förderschulen in den letzten Jahren Gewalt erlebt. Woran liegt das?08.02.2024 | 4:52 min
Auch Hestermann verweist "auf ganz andere Gründe, vor allem soziale", etwa Bildung und Bildungschancen. So zeigten Zahlen von Kriminologen beispielsweise, "dass Hauptschüler deutlich häufiger Waffen tragen als Gymnasiasten". Und: "Es sind vor allem Männer, die sich bewaffnen und mit Waffen andere verletzten."
Hestermanns Fazit: "Richtig ist: Wir haben aktuell ein Problem mit einer deutlichen Zunahme von Kriminalität insgesamt wie auch von Messerdelikten." Entscheidend für die Kriminalitäts-Prävention sei aber, wie man die Zahlen deute - und welche Politik und welches polizeiliche Handeln man daraus ableite.
"Angst ist ein Geschäftsmodell", sagt Thomas Hestermann von der Hamburger Hochschule Macromedia. "Kriminalität führt zu - vielfach - irrationalen Ängsten. Fremdheit macht Angst. Beides zusammen ist eine perfekte Mischung, um Stimmung zu schüren, erst recht, wenn viele Probleme mit der Migration ungelöst sind."
Bereits vor fünf Jahren wertete Hestermann mehr als 200 AfD-Pressemitteilungen aus. Das Ergebnis: "Soweit die Herkunft von Tatverdächtigen angegeben wird, sind sie zu 95 Prozent Ausländer - und zwar vor allem aus den Fluchtländern Irak, Syrien und Afghanistan." Diese Auswahl habe nichts mit Polizeistatistiken zu tun. "Aber Menschen sind kaum von Statistiken, sondern stärker von Emotionen geleitet."
Schon der Deutsche Viktimierungssurvey 2017 des Bundeskriminalamts habe zudem gezeigt, dass die Kriminalitätsfurcht in den östlichen Bundesländern stärker ausgeprägt sei als in den westlichen. Damit, sagt Hestermann, bediene Kriminalitätsfurcht "besonders die Emotionen der AfD-Stammwählerschaft".
Auf dem Parteitag in Essen zeichnet AfD-Chefin Alice Weidel ein düsteres Deutschland-Bild. Doch den "Kontrollverlust", den Weidel beschwört, gibt es so nicht. Ein Faktencheck.