AfD: Wie Alice Weidel in Essen Straftaten instrumentalisiert

    Faktencheck

    In Rede beim AfD-Parteitag:Wie Weidel Straftaten instrumentalisiert

    ZDFheute Update - Kevin Schubert
    von Kevin Schubert
    |

    Auf dem Parteitag in Essen zeichnet AfD-Chefin Alice Weidel ein düsteres Deutschland-Bild. Doch den "Kontrollverlust", den Weidel beschwört, gibt es so nicht. Ein Faktencheck.

    Alice Weidel, Bundesvorsitzende der AfD, spricht beim Bundesparteitag der AfD in der Grugahalle in Essen am 29.06.2024.
    AfD-Chefin Alice Weidel auf dem Essener Parteitag: Für Kriminologe Tobias Singelnstein war ihre Rede "populistische Propaganda".
    Quelle: dpa

    "Kriminalität ist ein emotionsbeladenes Thema", sagt Tobias Singelnstein. "Straftaten verursachen Ängste", sagt der Professor für Kriminologie und Strafrecht der Frankfurter Goethe-Universtität. "Und deshalb werden sie so gerne von Populisten aufgegriffen und genutzt, weil man mit ihnen Stimmung machen und Ängste mobilisieren kann."
    AfD-Chefin Alice Weidel bildet da keine Ausnahme. In ihrer Eröffnungsrede des Essener Parteitags beschwört Weidel am Samstag den "von der CDU geschaffenen Kontrollverlust 2015". Weidel behauptet: "Wir haben eine Krise der inneren Sicherheit. Ausländerkriminalität und Ausländergewalt explodieren." Kurz darauf legt sie nach: "mehr Messerangriffe, mehr Morde, mehr Vergewaltigungen."
    Singelnstein widerspricht entschieden:

    Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt.

    Kriminologe Tobias Singelnstein

    Für ZDFheute haben Experten Weidels Aussagen eingeordnet. Das Fazit vorab: Weidel lügt oder dramatisiert in allen Punkten. Die Details.

    Gesamtentwicklung: Zahl der Straftaten in Deutschland explodiert nicht

    Den von Weidel beschworenen "Kontrollverlust" nach 2015 nennt Kriminologe Singelnstein "populistische Propaganda". Der Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik zeige, dass die Zahl der Straftaten im langfristigen Vergleich rückläufig ist - auch wenn es nach der Corona-Pandemie zuletzt einen leichten Anstieg gegeben habe.
    Polizeilich erfasste Straftaten in Deutschland
    ZDFheute Infografik
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    Das Bundeskriminalamt (BKA) erklärt den Anstieg der Kriminalität nach der Pandemie unter anderem mit der gestiegenen Mobilität. "Mit dem Wegfall der letzten Corona-bedingten Einschränkungen im Frühjahr 2023 sind die Menschen wieder mehr unterwegs, tendenziell verstärkt im öffentlichen Raum. Dadurch ergeben sich mehr Tatgelegenheiten und -anlässe."
    Ein Platz in Stuttgart, dersich mit Bandenmitglieder füllt.
    Stuttgart kämpft gegen die Bandenkriminalität, die immer mehr zu eskalieren droht. Erst Anfang Dezember kam es bei einer Auseinandersetzung zum Einsatz einer Handgranate. 20.12.2023 | 15:01 min
    Auch die Inflation könne eine Rolle spielen. Das BKA spricht von erhöhten wirtschaftlichen und sozialen Belastungen, was sich auf die Anfälligkeit, Straftaten zu begehen, auswirken könne.
    Singelnstein sagt: "Es gibt hier überhaupt keinen sachlichen Grund zu dramatisieren".

    "Angst ist ein Geschäftsmodell", sagt Thomas Hestermann von der Hamburger Hochschule Macromedia. "Kriminalität führt zu - vielfach - irrationalen Ängsten. Fremdheit macht Angst. Beides zusammen ist eine perfekte Mischung, um Stimmung zu schüren, erst recht, wenn viele Probleme mit der Migration ungelöst sind."

    Bereits vor fünf Jahren wertete Hestermann mehr als 200 AfD-Pressemitteilungen aus. Das Ergebnis: "Soweit die Herkunft von Tatverdächtigen angegeben wird, sind sie zu 95 Prozent Ausländer - und zwar vor allem aus den Fluchtländern Irak, Syrien und Afghanistan." Diese Auswahl habe nichts mit Polizeistatistiken zu tun. "Aber Menschen sind kaum von Statistiken, sondern stärker von Emotionen geleitet."

    Schon der Deutsche Viktimierungssurvey 2017 des Bundeskriminalamts habe zudem gezeigt, dass die Kriminalitätsfurcht in den östlichen Bundesländern stärker ausgeprägt sei als in den westlichen. Damit, sagt Hestermann, bediene Kriminalitätsfurcht "besonders die Emotionen der AfD-Stammwählerschaft".

    Migration: Warum die Polizeiliche Kriminalstatistik kaum Aussagekraft hat

    Die Polizeiliche Kriminalstatistik unterscheidet zwischen deutschen und nichtdeutschen Tatverdächtigen. Dabei fällt tatsächlich auf, dass der Anteil nichtdeutscher Verdächtiger bei vielen Straftaten erhöht ist. Bei insgesamt 2.246.767 Tatverdächtigen hat die Polizei im vergangenen Jahr 923.269 nichtdeutsche Tatverdächtige erfasst - ein Anteil von 41,1 Prozent.

    Die PKS ist eine sogenannte Ausgangsstatistik. Das bedeutet, dass in ihr die der Polizei bekannt gewordenen und durch sie endbearbeiteten Straftaten, einschließlich der mit Strafe bedrohten Versuche und der vom Zoll bearbeiteten Rauschgiftdelikte, abgebildet werden und eine statistische Erfassung erst bei Abgabe an die Staatsanwaltschaft erfolgt. Dabei ist zu beachten, dass die Zahlen auch durch das Anzeigeverhalten in der Bevölkerung beeinflusst werden und neben dem "Hellfeld" ein "Dunkelfeld" nicht erfasster Straftaten bleibt.

    Nicht enthalten sind Staatsschutzdelikte, Verkehrsdelikte (mit Ausnahme der Verstöße gegen §§ 315, 315b StGB und § 22a StVG), Straftaten, die außerhalb der Bundesrepublik Deutschland begangen wurden, Ordnungswidrigkeiten und Verstöße gegen strafrechtliche Landesgesetze, mit Ausnahme der einschlägigen Vorschriften in den Landesdatenschutzgesetzen.

    Delikte, die nicht zum Aufgabenbereich der Polizei gehören (z.B. Finanz- und Steuerdelikte) bzw. unmittelbar bei der Staatsanwaltschaft angezeigt und ausschließlich von ihr bearbeitet werden (z.B. Aussagedelikte), sind ebenfalls nicht in der PKS enthalten.

    Die PKS trifft auch keine Aussage darüber, welchen Verlauf das bei den Justizbehörden in Gang gesetzte Verfahren nimmt, ob also eine Verurteilung erfolgt. Es sind daher auch Fälle beinhaltet, in denen das Verfahren durch die Staatsanwaltschaft eingestellt wurde oder es zu einem Freispruch durch das Gericht gekommen ist.

    Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2023

    Doch die Kategorie "Nichtdeutsche" habe "eigentlich gar keine Aussagekraft", sagt Kriminologe Singelnstein. Denn darunter fielen sehr unterschiedliche Gruppen von Menschen, die kaum etwas gemein hätten: Geflüchtete, Pendler und Touristen, aber auch Menschen, die seit Jahrzehnten hier lebten oder sogar in Deutschland geboren seien. "Außerdem erfasst die Bevölkerungsstatistik, die zum Vergleich herangezogen wird, nicht alle Nichtdeutschen, die sich in Deutschland aufhalten", sagt Singelnstein. "Schon deshalb funktioniert der Vergleich des Anteils der Nichtdeutschen in beiden Statistiken nur eingeschränkt." Zudem gäbe es eine Reihe von Straftatbeständen, die nur von Ausländern erfüllt werden könnten - etwa unerlaubte Aufenthalte oder Einreisen.
    Berlin, 21.05.2024: Zahl der politisch motivierten Straftaten
    Trauriger Rekord: Die politisch motivierte Kriminalität ist 2023 in Deutschland erneut angestiegen. Insbesondere die religiös motivierten Straftaten haben massiv zugenommen. 21.05.2024 | 2:47 min
    Singelnstein nennt andere Faktoren, auf die es stattdessen ankomme - etwa die sozialen Lebensumstände sowie die Alters- oder Geschlechtsstrukturen, die sich in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterscheiden können. Darauf verweist auch der Journalist Thomas Hestermann, der an der Hamburger Hochschule Macromedia zur Darstellung von Kriminalität forscht. Hestermann sagt:

    Wir Deutschen sind nicht die besseren Menschen, und Menschen ohne deutschen Pass neigen nicht stärker zur Gewalt.

    Thomas Hestermann

    Wenn trotzdem der Anteil von Nichtdeutschen deutlich höher sei, als es dem Anteil an der Bevölkerung entspreche, "hat das ganz andere Gründe", sagt Hestermann, "vor allem soziale". So zeigten Zahlen von Kriminologen weltweit, dass sich "vor allem Männer bewaffnen und mit Waffen andere verletzten" - unabhängig von ihrer Herkunft. Entscheidend für die Kriminalitäts-Prävention sei deshalb, wie man die Zahlen deute - und welche Politik und welches polizeiliche Handeln man daraus ableite.

    Die ZDF-Rechtsexpert*innen Sarah Tacke und Samuel Kirsch, die das Phänomen Jugendgewalt in einer ZDF-Doku thematisiert haben, schreiben in ihrem Beitrag "Mit jungen Gewalttätern umgehen: Fünf Thesen":

    Nicht der Migrationshintergrund selbst, die Nationalität, das Geburtsland oder die Abstammung machen es wahrscheinlicher, dass Jugendliche gewalttätig werden. Risikofaktoren sind:

    • Erfahrungen mit Gewalt etwa im Elternhaus
    • eine "Ansteckungsgefahr" durch ein Umfeld aus kriminellen Freunden
    • häufiges Schwänzen der Schule
    • Alkohol- und Drogenkonsum
    • sowie geringe Bildungschancen und damit verbunden weniger rosige Aussicht auf einen guten Job und ein stabiles soziales Umfeld.

    Das gelte auch für Jugendliche ohne Migrationshintergrund - "nur kommen die Risikofaktoren eben bei Jugendlichen mit bestimmten Migrationsbiografien verbreiteter vor als bei Jugendlichen ohne solche".

    Am Puls mit Sarah Tacke - Foto 2
    Wenn Jugendliche zuschlagen. ZDF-Rechtsexpertin Sarah Tacke geht dem Problem auf den Grund: Wer sind die Täter, was treibt sie an?03.08.2023 | 43:05 min

    Messerangriffe: Zahlen nur vereinzelt verfügbar

    Dass es in Deutschland "mehr Messerangriffe" gibt, wie Alice Weidel behauptet, lässt sich derzeit nicht belegen. Das Bundeskriminalamt erfasst Messerangriffe als Phänomen erst seit wenigen Jahren. Für das Berichtsjahr 2023 wurden 8.951 Messerangriffe im Zusammenhang mit gefährlicher und schwerer Körperverletzung erfasst, im Jahr 2022 waren es 8.160 Fälle. Bei Raubdelikten waren es 4.893 Fälle (2023) nach 4.195 Fällen im Vorjahr.
    Ein bundesweit einheitliches Lagebild soll erstmals für 2024 erstellt werden. "Verlässliche, also seit Jahren erhobene Zahlen", sagt Hestermann, "gibt es bislang nur aus einzelnen Bundesländern".



    Zahl der Morde in Deutschland sinkt

    "Überhaupt nicht nachvollziehbar" ist für Kriminologe Singelnstein Weidels Aussage, dass es "mehr Morde" gäbe. In der Polizeilichen Kriminalstatistik ist die Häufigkeitszahl der erfassten Mordfälle seit Jahren sehr konstant und tendenziell rückläufig.
    Polizeilich erfasste Morde in Deutschland
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    Auch die sogenannten Opfergefährdungszahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik widerlegen Weidels Behauptung. Aus ihnen lässt sich herauslesen, wie hoch das Risiko für den einzelnen Menschen ist, Opfer einer Straftat zu werden. Experte Hestermann: "2022 war das Risiko, Opfer eines Mordes zu werden, mit 1,2 aus 100.000 genauso niedrig wie 20 Jahre zuvor."
    Morde in Deutschland pro 100.000 Einwohnern
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    Der Zahl der erfassten Vergewaltigungen greift zu kurz

    Die polizeilich erfassten Vergewaltigungen, sexuellen Übergriffe und Nötigungen steigen seit Jahren:
    Polizeilich erfasste Vergewaltigungen in Deutschland
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    Auch die Opfergefährdungszahl, also das Risiko, Opfer eines Sexualdelikts zu werden, ist seit Beginn der Erhebung im Jahr 2000 gestiegen:
    Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe pro 100.000 Einwohnern
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    Hat Weidel also Recht, wenn sie von "mehr Vergewaltigungen" spricht? "Nein, so einfach ist es nicht", sagt Kriminologe Singelnstein - und ordnet ein: "Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist nicht gleichzusetzen mit der Kriminalitätswirklichkeit." Sie zeige nur, wie viele Verfahren die Polizei in einem Jahr bearbeitet habe. Dabei sieht Singelnstein im Bereich der Sexualdelikte "zahlreiche Umstände, die zu diesem Anstieg geführt haben können".
    Eine Frau hält ihre Hände vor das Gesicht (gestellte Szene).
    Aus dem diesjährigen Lagebericht des BKA zur häuslichen Gewalt geht hervor, dass zum dritten Mal in Folge die Zahl der Opfer steigt. Es gab im Jahr 2023 über 250.000 Opfer. 07.06.2024 | 1:32 min
    Singelnstein verweist unter anderem auf die gesetzliche Definition des erfassten Straftatbestands. So sind beispielsweise Vergewaltigungen in der Ehe erst seit Juli 1997 strafbar, können erst seitdem zur Anzeige gebracht werden. "Wenn der Gesetzgeber etwas verändert, wirkt sich das natürlich auf die Statistik aus", sagt Singelnstein.
    Dazu habe sich die gesellschaftliche Wahrnehmung von und die Debatte um sexualisierte Gewalt verändert, sagt Singelnstein. Unter anderem die #MeToo-Debatte habe zur Sichtbarkeit und einem gesteigerten Problembewusstsein beigetragen. Das könne die Bereitschaft von Betroffenen, Sexualdelikte bei der Polizei anzuzeigen, erhöhen. Singelnstein fasst deshalb zusammen:

    Die Kriminologie geht davon aus, dass es eher keinen erheblichen Anstieg im Bereich Vergewaltigung und sexueller Nötigung gibt.

    Kriminologe Tobias Singelnstein

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