Expertin zu Wahlen in Tunesien: Repression im Land nimmt zu

    Interview

    Wahlen in Tunesien:Expertin: Repression im Land nimmt zu

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    Am Sonntag wird in Tunesien ein neuer Präsident gewählt. Das Ergebnis dürfte keine Überraschung sein. Autokratie-Forscherin Irene Weipert-Fenner erklärt, warum.

    Wahlplakat mit Kais Saied
    Amtsinhaber Kais Saied hat bei der Präsidentschaftswahl in Tunesien keine wirkliche Konkurrenz, erklärt Autokratie-Forscherin Irene Weipert-Fenner. Ihm gingen aber langsam die Sündenböcke für die schlechte wirtschaftliche Lage aus.
    Quelle: Imago

    Im Mittelmeerland Tunesien wird am Sonntag der Präsidentschaftsposten gewählt. Um die Demokratie in dem nordafrikanischen Land steht es nicht gut: Amtsinhaber Kais Saied schürt für den Erhalt seiner Macht Verschwörungstheorien und geht ohne ernstzunehmende Konkurrenz in die Wahl. Autokratie-Forscherin Irene Weipert-Fenner erklärt im Interview mit ZDFheute die Hintergründe und beschreibt die Situation im Land.
    ZDFheute: Sie gehen davon aus, dass Kais Saied erneut zum Präsidenten gewählt wird. Was bringt Sie zu dieser Annahme?
    Irene Weipert-Fenner: Prominente Gegenkandidat*innen wurden entweder inhaftiert oder von der Wahlkommission vom Rennen um das Präsidentenamt ausgeschlossen. Hierfür muss man wissen, dass Saied bereits 2022 de facto die Kontrolle über die Kommission übernommen hat.
    Generell zeugt der breite Ausschluss von Wettbewerb aber von einer gewissen Nervosität. Saied ist sich nicht sicher, inwiefern seine Narrative von Verschwörungstheorien rund um korrupte Eliten und westliche Mächte noch wirken.

    ...forscht am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung zu innerstaatlichen Konflikten und sozialen Bewegungen. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Nordafrika, insbesondere Tunesien.

    ZDFheute: Trotzdem gibt es zwei von der Wahlkommission zugelassene Gegenkandidaten. Sind diese ernste Gegenspieler für Saied?
    Weipert-Fenner: Von insgesamt 17 eingereichten Kandidaturen hat die Wahlbehörde nur drei zur Wahl zugelassen - inklusive Saied - und es wurden hohe bürokratische Anforderungen gestellt.
    Dabei zählt Ayachi Zammel noch am ehesten als Oppositionskandidat, er wurde aber diese Woche zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Er soll Unterschriften von Unterstützern, die für eine Kandidatur nötig sind, gefälscht haben.
    Der dritte Kandidat heißt Zouhair Maghzaoui. Er hat die Auflösung des Parlaments 2021 mitgetragen, nach der Saied Stück für Stück die Macht an sich gerissen hat. Somit ist auch er keine echte Opposition.
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    ZDFheute: Wie steht die breite Bevölkerung zu einem Präsidenten, den sie wahrscheinlich nicht abwählen kann?
    Weipert-Fenner: Es ist nicht ganz klar, wie viel Zustimmung Saied unter Tunesierinnen und Tunesiern noch genießt. Es gibt allerdings auch keine echte Alternative zu Saied.
    Die Zeit nach der Revolution von 2011 möchte niemand zurück. Politische Parteien sind generell in Verruf geraten, das Parlament wurde zum Austragungsort politischer Grabenkämpfe. Generell entstand der Eindruck ineffizienter demokratischer Institutionen, die sich nicht um das Gemeinwohl kümmern.
    Es gab viel Protest und Unmut über die schlechte Wirtschaftslage, und viele haben das Vertrauen in das System verloren. Davon profitiert Saied.

    Am 6. Oktober findet die erste Wahlrunde der Präsidentschaftswahlen in Tunesien statt. Die vorläufigen Ergebnisse werden drei Tage später erwartet. Das amtliche Endergebnis am 9. November. Wird kein Kandidat mit einer absoluten Mehrheit gewählt, findet daraufhin eine Stichwahl statt.

    ZDFheute: Das Land ist hochverschuldet und kämpft mit einer weiterhin hohen Inflation. Vor allem die Jugendarbeitslosigkeit ist sehr hoch. Nimmt Saied daraus keinen politischen Schaden?
    Weipert-Fenner: Saied nutzt ein nebulöses Sündenbocknarrativ gegen Islamisten und gegen korrupte Eliten, die, vom Westen gestützt, das Land plündern würden.
    Gleichzeitig schürt Saied rassistische Einstellungen gegenüber Menschen mit schwarzer Haut, in dem er von einem angeblich geplanten Bevölkerungsaustausch spricht.
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    Es ist immer wieder jemand anderes, der Schuld an der Situation im Land haben soll. Mittlerweile geht Saied auch gegen Mitglieder aus der eigenen Bürokratie vor. Dieses Narrativ hat sich langsam auserzählt. Die Luft wird dünn für Saied, bald gibt es keine Sündenböcke mehr.
    Um die wirtschaftliche Lage nachhaltig zu ändern, wäre eine Regierung mit politischem Gestaltungswillen gefragt. Doch das sehe ich im Moment nicht.
    ZDFheute: Gleichzeitig scheint zivilgesellschaftliche Opposition zu existieren. Es gibt Demonstrationen in Tunis - gegen Saied.
    Weipert-Fenner: Es ist noch keine Friedhofsruhe, doch es wird immer schwieriger. Die Repression gegen Opposition, Journalist*innen, Anwälte und Aktivist*innen hat deutlich zugenommen. Konsequenz ist auch Selbstzensur. Einige Oppositionspolitiker boykottieren daher auch die Wahl.
    Gleichzeitig ist die breite Bevölkerung politisch eher demobilisiert: Proteste gibt es, aber ihre Zahl nimmt ab. Auch die Wahlbeteiligung bei den letzten Parlamentswahlen war sehr gering.
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    ZDFheute: Auf europäischer Ebene ist wenig zur Lage in Tunesien zu hören. Wie geht die Europäische Union mit dem Thema um?
    Weipert-Fenner: Es gab zwar Kritik aus dem Europäischen Parlament. Doch für Europa sind vor allem zwei Themenbereiche wichtig: Migration und Energie.
    Der Migrationspakt mit Tunesien gilt mittlerweile als Vorzeigemodell, das Flucht nach Europa verhindert und Staaten finanziell belohnt, die sich daran beteiligen. Wie Tunesien dann mit den Geflüchteten umgeht und sie zum Beispiel Berichten zufolge in der Wüste aussetzt, löst keine große Entrüstung mehr aus.
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    Auch beim Thema grüner Wasserstoff gab es schon Absichtserklärungen zwischen der EU und Tunesien. Das Thema wird in den kommenden Jahren sehr wichtig für das Land.
    Und für die EU scheint grüne Energie aus den Nachbarländern als unverzichtbar auf dem Weg zur angestrebten Klimaneutralität. Kritik am Staatsapparat und unfreien Wahlen tritt da in den Hintergrund.
    Das Interview führte Lukas Nickel. Er berichtet für das ZDF gerade aus Tunesien.

    Eine Person hält ein Smartphone in der Hand. Darauf ist der WhatsApp-Channel der ZDFheute zu sehen.
    Quelle: ZDF

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