Ex-Ukraine-Diplomat Kuleba: "Jetzt kann ich freier sprechen"
Interview
Ex-Außenminister der Ukraine:Kuleba: "Jetzt kann ich freier sprechen"
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Die Ukraine und die US-Wahl, Nordkoreaner kämpfen für Russland, in Deutschland wird der Ruf nach mehr Diplomatie lauter - genug Themen für ein Gespräch mit Ex-Außenminister Kuleba.
Der ehemalige ukrainische Außenminister Kuleba redet nach dem Amtsende freier, sagt er. Themen, die ihn bewegen, gibt es reichlich zu besprechen. Ungekürzt aus einer Bar in Kiew.03.11.2024 | 22:12 min
Die Zusage zum Interview kam prompt. Ein "Afterwork"-Interview habe er bisher noch nicht gegeben. Und ja, es passe tatsächlich zu seiner jetzigen Situation, ließ Dmytro Kuleba von seinem Assistenten ausrichten. Kuleba ist erst kürzlich aus dem Amt des ukrainischen Außenministers geschieden.
Der Treffpunkt: "Barman Diktat" im Herzen Kiews - eine Kellerbar, berühmt für Cocktails samt angemessenem Whiskey-Sortiment, nebenbei erfüllt die "underground"-Lage Sicherheitsaspekte während eines Luftalarms. Kuleba erscheint pünktlich, verzichtet auf Drinks.
ZDFheute: Zu Beginn des Krieges war es der ukrainische Staat, der am Rande des Abgrunds stand. Wie schwierig war es, die Scholz-Regierung davon zu überzeugen, mehr als nur Helme zu liefern?
DmytroKuleba: Es war die schwierigste Aufgabe, vor der wir standen. Sehen Sie, das Problem, dass der Westen immer mit der Ukraine hatte, war, dass er nie an uns geglaubt hat. Der Westen akzeptierte unsere Unabhängigkeit. Der Westen begann, Beziehungen zu uns aufzubauen, aber er schaute auf uns immer durch die Augen Russlands. Ich verstehe, wie schwierig diese Kehrtwende für Deutschland war.
Heute ist Deutschland die Nummer zwei unter den Geberländern von Militärhilfe für die Ukraine. Und die deutschen Politiker sind zu Recht stolz auf diese Leistung. Endlich sieht Berlin Kiew auf Augenhöhe und nicht mehr durch russische Augen.
Die Ukraine brauche „neue Energien“, so der ukrainische Präsident Selenskyj zur Begründung. Sechs Minister sollen ihre Posten räumen, darunter auch Außenminister Dmytro Kuleba. 04.09.2024 | 1:33 min
ZDFheute: War es Ihre Idee - ich nenne es mal die "Diplomatie der Eskalation" -, die der frühere Botschafter in Deutschland, Andryj Melnyk, anfangs verfolgte?
Kuleba: Zu Beginn des Krieges hatte unser Botschafter in Berlin völlige Handlungsfreiheit.
Und zwei zentrale Dinge habe ich gefordert. Die waren: mehr Waffen für die Ukraine und mehr Sanktionen gegen Russland. Das war die allgemeine Anweisung an unsere gesamte Diplomatie. Wenn der Moment da ist, in dem man schwimmt oder untergeht, in diesem Moment darf man keine Angst haben, jemandem vor den Kopf zu stoßen.
Seit Tagen warnt die Ukraine vor einem baldigen Einsatz von nordkoreanischen Soldaten auf russischer Seite. Sie sollen bereits im russischen Gebiet Kursk eingetroffen sein.27.10.2024 | 1:29 min
ZDFheute: Es erheben sich mehr Stimmen in Deutschland, die mehr Diplomatie fordern. Aus der AfD, aus dem Bündnis Sahra Wagenknecht. Beide Parteien waren in Ostdeutschland sehr erfolgreich. Glauben Sie, der Geist des Minsker Abkommens kehrt zurück?
Kuleba: Ich glaube nicht, dass dieser Geist jemals den Raum verlassen hat. Er wurde unterdrückt, aber ich glaube nicht, dass er verschwunden ist. Anne Applebaum [die diesjährige Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels, Anm. d. Red.] sagte etwas sehr Wichtiges. Ich hoffe, dass so viele Deutsche wie möglich diese Worte hören können.
Sie sagte: "'Ich will Frieden' ist nicht immer ein moralisches Argument. Es gibt Situationen im Leben, in denen man kämpfen muss, um Frieden zu gewinnen. Wenn der Weg zum Frieden nicht durch Zugeständnisse und Beschwichtigung eines Aggressors geebnet werden kann." Und das ist, denke ich, was die Deutschen verstehen müssen. Putin hat sich für den Krieg entschieden.
8.000 nordkoreanische Soldaten sind nach US-Angaben in der Region Kursk. Präsident Selenskyj spricht von "Null" Reaktion der Verbündeten. Militärexperte Keupp analysiert die Lage.31.10.2024 | 36:35 min
ZDFheute: Jetzt sind nordkoreanische Soldaten in Russland. Glauben Sie, dass Südkorea schockiert ist und jetzt aufwacht?
Kuleba: Das ist hässlich! Und das habe ich als Minister am meisten gehasst - zu sehen, dass nur ukrainisches Blut, ukrainischer Tod und ukrainisches Leid andere Länder dazu bringen, ihre Meinung zu ändern, aufzuwachen und zu sagen: "Oh, die Ukrainer hatten recht mit dem, was sie sagten."
Quelle: dpa
... war von 2020 bis 2024 - und damit auch zur Zeit des Beginns des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine - Außenminister der Ukraine unter Präsident Wolodymyr Selenskyj. Im September 2024 trat Kuleba im Vorfeld einer Kabinettsumbildung von dieser Funktion zurück.
Ja, wir lagen richtig. Aber man hat nicht auf uns gehört, weil man immer lieber Moskau als uns vertraute. Man immer lieber mit ihnen Geschäfte gemacht und mit ihnen Geld verdient. Und wo immer auf der Welt sie geschehen, diese Aufwach-Momente. Dann ist das hässlich.
Im Juni erklärte der damalige ukrainische Außenminister im Interview, dass er als Diplomat immer ein Pokerface behält. Und bereit gewesen sei, mit Russland an den Verhandlungstisch zu gehen.27.06.2024 | 24:01 min
ZDFheute: Haben Sie Angst, dass im Weißen Haus nach der Wahl bald jemand sitzen könnte, der die Ukraine nicht mehr im gleichen Maße unterstützen wird?
Kuleba: Angst ist nicht die Emotion oder das Gefühl, mit dem ich beschreiben würde, wie wir uns fühlen. Ich denke, wir haben ein sehr klares Verständnis für die Gefahren, denen wir gegenüberstehen, für die Herausforderungen, die vor uns liegen. Aber wir werden damit umgehen müssen, auf die eine oder andere Weise.
Aber beide [Kandidaten] werden anders sein als die Erfahrung, die wir mit Präsident Biden gemacht haben.
ZDFheute: Wo sehen Sie die Ukraine in fünf Jahren? Was wird Ihrer Meinung nach die Zukunft bringen?
Kuleba: In fünf Jahren wird die Ukraine als Staat immer noch existieren. Und das ist bereits eine historische Errungenschaft. Ich denke, wir werden dann kurz vor einem Beitritt zur EU und zur Nato stehen. Und Russland wird immer noch eine Bedrohung darstellen, aber Russland wird die Tatsache akzeptieren müssen, dass die Ukraine ihren Weg gegangen ist. Denn aus historischer Sicht ist alles, was gerade passiert, nichts anderes als die große Rückkehr der Ukraine nach Europa.
Das Interview führte Dara Hassanzadeh, ZDF-Reporter in der Ukraine.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.