Die Türkei nach dem Erdbeben: So leben die Menschen heute

Türkei zwei Jahre nach Beben:"Endlich raus aus dem kleinen Container"

Carsten Rüger
von Carsten Rüger
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Das Erdbeben im Südosten der Türkei traf auch die Stadt Adıyaman. Und heute? Tausende neue Häuser sind bereits gebaut. Doch noch immer gibt es Trümmer, Trauer und viel Kritik.

Zwei Jahre nach verheerendem Erdbeben in Antakya
Gewaltige Erdstöße erschütterten am 6. Februar 2023 den Südosten der Türkei und den Norden Syriens. Mehr als 63.000 Menschen starben. Der Wiederaufbau geht gut voran.06.02.2025 | 2:41 min
Der Uhrenturm in Adıyaman. Der große Zeiger steht auf der 17. Der kleine zeigt auf die vier. Um 4:17 Uhr traf am 6. Februar 2023 das verheerende Erdbeben die Region im Südosten der Türkei. Brachte für so viele Tod und Zerstörung - und brachte die große Uhr zum Stillstand.

Die größte Baustelle der Türkei

Um den Saat Kulesi, den Uhrenturm, schwirren Betonmischfahrzeuge und Lkw mit Ziegeln und Zement, kreisen Kräne. Überall wird gehämmert, gesägt, gebaut. Eigentlich müsste der Türkei der Sand ausgehen, so viel wird hier an Häusern hochgezogen: Steht die Sonne tief, wird der Staub, den man einatmet, so richtig sichtbar.
Ein Freiwilliger hält eine LED-Kerze in den Händen beim Gedenken an das Erdbeben in Syrien und der Türkei vor 2 Jahren.
Vor zwei Jahren erschütterte ein starkes Erdbeben den Süden der Türkei und den Norden Syriens. Tausende verloren ihr Leben, Millionen wurden obdachlos. Ein Bericht aus Adıyaman.06.02.2025 | 1:38 min
"Wir bauen 24 Stunden, 7 Tage die Woche", sagt der Gouverneur der Provinz. Osman Varol ist ein kleiner dynamischer Mann und zeigt uns stolz Indere, die größte Baustelle der Türkei. Oberhalb von Adıyaman auf einem großen Felsenhügel sind sie dabei, eine riesige neue Stadt aus dem Boden zu stampfen. Wegen des harten Untergrunds erdbebensicher. Hunderte neue Gebäude stehen schon. "Wir bauen eine neue moderne Stadt: mit 16.000 Wohnungen, mit Turnhallen, Sportplätzen, Moscheen," erklärt er.

65.000 Menschen werden hier einmal wohnen. Und ja, wir werden bis Ende des Sommers mit den Bauarbeiten fertig sein.

Osman Varol, Gouverneur Provinz Adıyaman

Wir treffen Necla und Gülşen. Die Frauen haben sich im Containerdorf kennengelernt. Beide freuen sich darauf, schon bald in dem neugebauten Ort Indere Nachbarinnen zu sein. "Wir haben schon vor einem Jahr per Los eine Wohnung hier bekommen", erklärt Necla.
"Da war es noch ein Rohbau. Vor drei Monaten haben wir dann die Schlüssel bekommen. Und jetzt bin ich das zehnte Mal schon hier, um zu gucken…" Ihre Augen leuchten, als sie im funkelnagelneuen Mehrfamilienhaus ihre künftige Wohnung zeigt. Noch fließt kein Wasser, noch fehlt der Herd für den Gasanschluss - aber die Vorfreude ist riesig.

Endlich raus aus dem kleinen Container. Nicht mehr auf zwei winzigen Kochplatten kochen, sondern eine richtige Küche haben, ein richtiges Zuhause. Mit einer Waschmaschine, einer Spülmaschine.

Necla Karakeçi

Das habe sie so vermisst, sagt Necla. Und freue sich darauf, wenn sie sie das erste Mal öffnen und ihre Teller reintun könne: "Ja, so etwas vermisse ich." Für Gülşen ist noch etwas anderes wichtig: Ihr neues Zuhause ist solide gebaut auf sicherem Untergrund. "Jetzt können wir ohne Angst schlafen, das Haus wird nicht über uns zusammenstürzen."
Eingestürzte Gebäude in der Türkei
Wie ist die Lage in der Türkei zwei Jahre nach der Katastrophe?28.01.2025 | 2:20 min

Schlafen im Container, Kochen im Freien

Die Aussicht auf eine neue Zukunft in eigenen vier Wänden hat Fadime nicht. "Als die Erde bebte, rannten wir alle raus. Die Wände unseres Hauses stürzten ein." Die Trümmer sind beseitigt. Aber an der Wand des Nachbarhauses, das noch steht, hängen die einstigen Küchenschränke, ragen die Reste in die Luft. Nun kochen sie unten, im Freien.
Fadime knetet Teig, die Oma füttert das Feuer eines Blechofens mit Holzästen. "Wir leben in dem Container und dem Zelt", sagt Fadime. Ihr Haus war so schwer beschädigt, dass es abgerissen wurde. Und Fadimes Familie ist es nun nicht erlaubt, ihr Haus neu aufzubauen. "Wir sind Opfer", sagt Fadime. Trotzdem laden sie uns ein - zu Tee und Brot vom Feuerofen. So groß wie ihr Leid ist ihre Herzlichkeit.
Zwei Frauen sitzen draußen vor einem Haus auf dem Boden und backen Brot
Zwei Jahre nach dem Erdbeben in der Türkei befindet sich das Land noch immer im Aufbau. Fadime macht Brot, wo einst ihr Haus stand.
Quelle: ZDF

Problem: der illegale Hausbau

"Das große Problem der Türkei ist der illegale Hausbau - und der Staat drückt ein Auge zu", sagt Tuncay Kaya, Vorsitzender der Bauingenieurkammer in Adıyaman. "Das staatliche Ministerium hat selbst mehrere Male Bau-Amnestien ausgesprochen. Will heißen: Bau unerlaubterweise zusätzliche Stockwerke, wir vergeben dir, du kannst da leben und die Verantwortung liegt bei dir."

Für viele dieser mangelhaften Gebäude, die beim Erdbeben eingestürzt sind, galt jene Bau-Amnestie. Das muss klar gesagt werden.

Tuncay Kaya, Vorsitzender Bauingenieurkammer Adıyaman

Die Zeiten, so Kaya, würden sich nicht ändern. Obwohl die Zeiger des Uhrenturms in Adıyaman jeden Tag mahnend an den Zeitpunkt der Katastrophe erinnern.
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Der Wiederaufbau in den zerstörten Gebieten geht kaum voran. Noch immer sind Menschen obdachlos, leben zwischen Trümmern, deren Giftstoffe Luft und Wasser belasten.31.01.2024 | 6:12 min
Ayşe Doğan laufen die Tränen über die Wangen.

Meine Neffen, meine Freunde, Verwandte… alle in den Trümmern. Wir haben mit bloßen Händen nach ihnen gegraben, aber wir konnten sie nicht erreichen.

Ayşe Doğan

Am 6. Februar, sagt sie, komme alles wieder hoch. Ayşe sitzt auf einer Bank im neu errichteten Stadtteil Örenli, lebt hier schon in einer neuen Wohnung. Hilft das? "Ich kann zwar wieder kochen, aber freue mich nicht aufs Essen, ich schmecke nichts. Ich wünschte, es wäre niemand gestorben, niemand wäre ums Leben gekommen und nur unsere Häuser wären weg." Eine Stadt kann man wieder aufbauen. Die Menschen, die sie verloren hat, bringt nichts zurück.

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Quelle: dpa

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