Ukraine-Krieg: Wie Selenskyjs "Siegesplan" aufgebaut ist
Analyse
Nato, Abschreckung, Wirtschaft:Wie Selenskyjs "Siegesplan" aufgebaut ist
von Christian Mölling, András Rácz
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Der ukrainische Präsident Selenskyj hat nun in Kiew seinen sogenannten Siegesplan präsentiert. Nato, Waffenlieferungen, Abschreckung und Gegenleistungen - was gefordert wird.
Wie reagieren sie in der Ukraine auf den "Siegesplan" von Präsident Selenskyj?16.10.2024 | 2:11 min
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am 16. Oktober seinen sogenannten Siegesplan im ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, vorgestellt.
Einige Elemente des Plans wurden der US-Regierung bereits während des jüngsten Besuchs von Selenskyj präsentiert. Auch einige europäische Verbündete waren zumindest über Teile des Plans bereits informiert. Dies war jedoch das erste Mal, dass der Plan öffentlich vorgestellt wurde.
Wie ist Selenskyj "Siegesplan" aufgebaut?
Der öffentliche Teil des Plans besteht aus fünf Punkten. Zudem gibt es drei geheime Anhänge. Die fünf Punkte sind in der Reihenfolge der Nummerierung aufeinander zu beziehen. Die ersten vier Punkte betreffen die Kriegszeit, während der fünfte Punkt für die Zeit danach gilt.
1. Nato-Mitgliedschaft
Die Ukraine sollte sofort und ohne weitere Bedingungen in die Nato eingeladen werden. Der Plan räumt ein, dass eine Mitgliedschaft in weiter Ferne liegt, argumentiert aber, dass bereits eine Einladung zur Mitgliedschaft sowohl als starke Abschreckung für Russland als auch als Garant für das anhaltende Engagement des Westens zur Unterstützung der Ukraine dienen würde. Außerdem, würde eine Einladung an die Ukraine auch dem russischen Volk zeigen, dass Putin geopolitisch durchaus besiegt werden kann.
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Eine Einladung bedeutet jedoch nicht, dass der Beitritt auch dann garantiert wäre. Neben den Staaten müssen die Parlamente der Nato-Länder zustimmen. Das Argument, dass eine Einladung Putin und der Welt zeigen würde, dass sich das Bündnis nicht abschrecken lässt, bleibt jedoch gültig.
2. Verteidigung
Die ukrainische Verteidigungsfähigkeit soll über eine Reihe von Maßnahmen gestärkt werden. Die erste besteht darin,
die Operationen auf dem russischen Territorium fortzusetzen, um eine Pufferzone zu schaffen und zu zeigen, dass Russland nicht einmal in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen.
Die zweite wäre, Russlands Offensivpotenzial in den besetzten Gebieten zu schwächen. Weitere Prioritäten sind
die Stärkung der Luftverteidigung,
die Zusammenarbeit mit den Nachbarländern beim Abschuss russischer Drohnen und Raketen,
die Möglichkeit, uneingeschränkt Langstreckenangriffe tief im Inneren Russlands zu unternehmen und
die fortgesetzte und verstärkte Zusammenarbeit mit den westlichen Verbündeten bei der Ausrüstung unter anderem bei den neuen ukrainischen Brigaden. Dieser Punkt hat einen geheimen Anhang.
Die Autoren der Militäranalyse
Quelle: DGAP
... leitet das Programm "Europas Zukunft" für die Bertelsmann Stiftung in Berlin. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.
Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.
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3. Abschreckung
Der dritte Punkt, Abschreckung, hat ebenfalls einen geheimen Anhang, der den Regierungen der USA, Großbritanniens, Deutschlands, Italiens und Frankreichs bereits vorgelegt wurde. Die Ukraine schlägt vor, dass ihre wichtigsten westlichen Partner eine umfassende, nicht-nukleare Abschreckung auf dem Territorium der Ukraine einsetzen sollten, um sicherzustellen, dass Russland im Falle eines erneuten Angriffs mit verheerenden Konsequenzen rechnen muss.
4. Wirtschaftspotenzial
Im vierten Punkt geht es um die Entwicklung des strategischen Wirtschaftspotenzials der Ukraine. Kurz gesagt wird in dem Plan befürwortet, die reichhaltigen natürlichen Ressourcen der Ukraine, einschließlich seltener Erden, Metalle, Titan und des Potenzials zur Nahrungsmittelproduktion, in die ökonomische und politische Strategie des Westens einzubeziehen. Dieser Teil enthält auch einen geheimen Anhang.
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5. Beitrag zur Sicherheit Europas
Der fünfte Punkt bezieht sich auf die Nachkriegszeit. Der Siegesplan sieht vor, dass die ukrainische Armee mit ihren einzigartigen Kampferfahrungen und ihrem Wissen ein integraler Bestandteil des Verteidigungspotenzials des Westens sein könnte. Dies könnte auch die USA entlasten. Mit anderen Worten: Kiew bietet an, mit seinem im Krieg erworbenen Wissen einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit Europas zu leisten.
Ukraine: Westliches Engagement verstetigen
Auch wenn eine detaillierte Bewertung des Siegesplans mehr Zeit in Anspruch nimmt, ist bereits jetzt klar, dass sein Hauptmotiv darin besteht, das Engagement des Westens für die Unterstützung - und auch die Verteidigung - der Ukraine zu festigen.
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Im Gegenzug bietet der Plan natürliche Ressourcen und unschätzbare, reale Kampferfahrungen sowie wahrscheinlich auch zahlreiche wirtschaftliche Möglichkeiten. Vor allem aber ist die Logik des Plans, dass der Westen durch die Verteidigung und Stärkung der Ukraine in der Lage wäre, auch Russland für lange Zeit in Schach zu halten.
Kiew bietet dem Westen Gegenleistungen
Die Erfüllung aller Punkte des Siegesplans würde jedoch ein noch nie dagewesenes Engagement des Westens erfordern, das von der derzeitigen Realität weit entfernt ist. Dies gilt insbesondere für die Einladung der Ukraine zum Nato-Beitritt.
Dies ist der logische Startpunkt des Plans. Doch ist Widerstand dagegen zu erwarten. Es sei daran erinnert, dass solche Entscheidungen die Zustimmung aller Mitglieder erfordern.
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Gleichzeitig bietet er zum ersten Mal auch erhebliche Gegenleistungen; er erwartet also nicht nur, dass sich der Westen für die Ukraine engagiert, sondern bietet auch einen eigenen Beitrag der Ukraine zu einem dauerhaften Bündnis. Unter diesem Gesichtspunkt ist er eindeutig viel besser und durchdachter als die sogenannte "Friedensformel" vom letzten Jahr.
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