Gesichtserkennung:EU-Firma half Moskau bei Massenüberwachung
von N. McIntyre, H. Munzinger, C. Huppertz
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In Moskau werden Protestierende mithilfe von Gesichtserkennung verhaftet. Trainiert wurde die Software über eine Plattform aus der EU. Putin will die Überwachung weiter ausbauen.
Massenüberwachung: In Russlands Hauptstadt Moskau gehört sie zum Alltag.
Quelle: TBIJ/Oliver Kemp
Als Kreml-Kritiker Alexej Nawalny Anfang März beerdigt wurde, kamen tausende Trauernde, die damit auch ihre Gegnerschaft zum Gewaltregime Wladimir Putins demonstrierten. Anders als bei anderen Demonstrationen vermied die russische Polizei gewaltsame Auseinandersetzungen. 128 Verhaftungen im ganzen Land zählte die russische Bürgerrechtsplattform OVD-Info an jenem Tag - wenig für russische Verhältnisse.
In den folgenden Tagen aber sollen laut OVD-Info mindestens 19 Menschen festgenommen worden sein, die durch die Überwachungssysteme der russischen Hauptstadt als Teilnehmer der Trauerkundgebung identifiziert wurden.
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EU-Firma Toloka im Fokus
Über 227.000 Überwachungskameras gibt es in Moskau, auch am Borissowskoje-Friedhof, auf dem Nawalny beigesetzt wurde. Sie machen die Stadt zu einer der am besten überwachten der Welt. Auch in anderen russischen Städten gibt es ähnliche Systeme. Als Hilfsmittel zur Aufklärung von Verbrechen angepriesen, scheint das System inzwischen vor allem ein Werkzeug für Massenüberwachung und die Unterdrückung Andersdenkender zu sein. Was bisher unbekannt war: Dabei half bis vor Kurzem auch eine Firma aus der EU.
Die Software zur Gesichtserkennung, die aus den Aufnahmen der Kameras erst polizeilich nutzbare Daten macht, stammt von russischen Firmen wie NTechLab, die seit Juli 2023 von der EU sanktioniert ist. NTechLab trainierte seine Gesichtserkennung auch nach der Sanktionierung mithilfe einer Firma namens Toloka, die in den Niederlanden und der Schweiz sitzt. Das zeigt eine internationale Recherche von ZDF frontal, dem "Spiegel" und den Rechercheorganisationen "The Bureau of Investigative Journalism" (TBIJ) und "Follow the Money".
Polizisten stehen Wache auf dem Borissowskoje-Friedhof in Moskau, wo die Beerdigung des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny stattfand.
Quelle: dpa
"Clickworker" für zuverlässige Gesichtserkennung
Toloka betreibt eine Plattform, auf der sogenannte "Clickworker" aus aller Welt im Gegenzug für Centbeträge einfachste Aufgaben erfüllen müssen, beispielsweise Bilder von ihren Gesichtern aus unterschiedlichen Positionen hochladen. Die Bilder dienten NTechLab gewissermaßen als Testmaterial, um die Gesichtserkennung noch zuverlässiger zu machen.
So half eine Firma aus der EU einer sanktionierten Firma in Russland, die für die russischen Behörden Gesichter von Oppositionellen herausfiltert. EU-Diplomaten, die namentlich nicht genannt werden wollten, schätzen das als Sanktionsbruch ein: "Wenn diese Unternehmen sanktioniert werden, dann ist es verboten, ihnen Ressourcen zur Verfügung zu stellen", sagt ein EU-Diplomat.
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Genau das hat offenbar die Plattform Toloka getan. Im September 2023, also anderthalb Monate nach Inkrafttreten der Sanktionen gegen NTechLab, postet ein Toloka-Nutzer auf Youtube ein Video, wie er eine Aufgabe auf der Plattform ausführt. Die Aufgabe lautet: "Lade fünf Bilder von Dir hoch". Als Lohn winken 50 Cent, auf dem Video sieht man auch den Auftraggeber, der Toloka dafür nutzt: NTechLab.
ZDF frontal und die Recherchepartner fanden mehrere solcher Videos und Fotos, die Tolokas Dienste für NTechLab und eine weitere sanktionierte Firma, Tevian, dokumentieren.
Tochtergesellschaften als mögliches legales Schlupfloch
Die niederländische Firma Toloka ist eine Tochtergesellschaft von Yandex. Außerdem existiert eine Toloka-Firma in der Schweiz, die ebenfalls zu Yandex gehört. Dort ist NTechLab bisher nicht sanktioniert, wie das zuständige Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft bestätigte.
Mehrere Sanktions-Experten, die namentlich nicht genannt werden wollen, vermuten deshalb, dass Geschäfte zwischen der Schweizer Tochterfirma von Yandex und NTechLab möglicherweise ein legales Schlupfloch sein könnten. Das Gleiche gelte für die russische Tochterfirma.
Yandex gilt als russisches Pendant zu Google, ist aber ebenfalls in den Niederlanden registriert und gehört in Teilen westlichen Investoren und Großbanken wie der UBS, JP Morgan Chase und Goldman Sachs. Im Februar kam es infolge des russischen Angriffskriegs zu einem Abspaltungsdeal im Volumen von mehr als fünf Milliarden Dollar.
Yandex verkaufte demnach sein russisches Hauptgeschäft unter anderem an einen früheren Manager von Gazprom und einen Investmentfonds, der zur Ölgesellschaft Lukoil gehört. Toloka bleibt Teil der niederländischen Gesellschaft von Yandex. Yandex Russland bestätigte dies auf Anfrage und verwies auf die neue Plattform Yandex Tasks, die Toloka für russische Kunden ersetzen soll.
Die EU sanktionierte NTechLab im Juli 2023. Die Firma sei "verantwortlich für die Bereitstellung technischer oder materieller Unterstützung für schwere Menschenrechtsverletzungen in Russland". Die EU führte "willkürliche Verhaftungen oder Inhaftierungen und Verletzungen oder Missbräuche der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit" als Begründung an.
Toloka teilte auf Anfrage mit: "Keines der EU- oder US-Unternehmen von Toloka hat jemals Dienstleistungen für NTechLab [...] erbracht" und auch keine Zahlungen von der Firma erhalten. Das Gleiche gelte für die Schweizer Firma. NTechLab habe einen Vertrag mit einer russischen Firma namens Toloka RU LLC gehabt. Was Toloka verschweigt: Auch diese russische Firma gehörte zum fraglichen Zeitpunkt einer niederländischen Firma. NTechLab ließ Fragen unbeantwortet.
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Kreml will Gesichtserkennung ausbauen
Die Gesichtserkennungssysteme in Russland sollen indes weiter ausgebaut werden, wie geleakte Dokumente aus der russischen Präsidialverwaltung zeigen. Die Dokumente sind Teil der "Kreml-Leaks", die dem estnischen Medium Delfi zugespielt und von ZDF frontal, "Spiegel", und internationalen Partnermedien ausgewertet wurden.
Demnach sollen für ein "Videostream-Verarbeitungszentrum" sowie einen entsprechenden Service allein für das Jahr 2024 umgerechnet mehr als 48 Millionen Euro zur Verfügung stehen, finanziert vom Ministerium für digitale Entwicklung und dem Büro des Präsidenten.
Das Kreml-Leak stammt aus der russischen Präsidialverwaltung. Es umfasst etwa 30 Unterlagen und Papiere, die von 2020 bis Dezember 2023 datiert sind. Sie wurden dem estnischen Medium "Delfi" zugespielt, welches sie mit dem ZDF, dem "Spiegel", dem österreichischen "Standard" und der Schweizer Tamedia-Gruppe, den russischen Exilmedien "Meduza" und "iStories" sowie "Expressen" aus Schweden, "Frontstory.pl" aus Polen und der Osteuropa-Plattform "VSquare.org" geteilt und ausgewertet hat. Später sind der britische Guardian und der finnische Fernsehsender Yle zu dem Rechercheteam dazugestoßen.
Videomaterial in ganz Russland
Umsetzen soll die Pläne eine russische Behörde namens GlavNIVTs, die direkt dem Präsidenten unterstellt ist und unter anderem Desinformations-Netzwerke betreibt. Aufgabe des neuen Systems soll es sein, Videomaterial aus ganz Russland zu sammeln, zu speichern und nach "Objekten von Interesse" zu durchsuchen, auch mithilfe künstlicher Intelligenz.
So könnten in Zukunft in Russland - wie nach der Beerdigung Nawalnys - noch deutlich mehr Menschen anhand von Videobildern identifiziert und verhaftet werden. Mit Unterstützung aus der EU.