Politische Verfolgung in Russland: Prozesse für Putin-Gegner

    Das System Putin:Wie sich Russlands Bürger gegenseitig verraten

    Armin Coerper, Leiter ZDF-Studio Moskau
    von Armin Coerper, Moskau
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    In Putins Reich soll sich niemand sicher fühlen. Das System der Verfolgung erinnert an die Stalinzeit und profitiert von Bürgern in Russland, die ihre Mitmenschen denunzieren.

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    Eine Frau steht vor Gericht. Sie ist Kinderärztin und 72 Jahre alt. In Handschellen wird sie in einen dieser Glaskäfige geführt, die mittlerweile die ganze Welt aus russischen Gerichtssälen kennt. Nadeschda Bujanowa soll einem Patienten, einem Kind, gesagt haben, dass der Krieg gegen die Ukraine sinnlos ist. Dafür hat die Mutter des Patienten sie angezeigt.

    Angeklagte Kinderärztin: "Ich bin nicht schuldig"

    Frau Bujanowa hat die Augen weit offen, sie schaut hektisch in den Saal. Man kann die Angst in ihrem Gesicht lesen, auf das die Kameras fokussiert sind, als die Angeklagte aus dem Glaskasten spricht.

    Ich bin keine öffentliche Person, kein Politiker, nur eine Ärztin und ich bin nicht schuldig.

    Nadeschda Bujanowa, Kinderärztin

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    Bujanowa sagt weiter: "Das alles ist moralisch sehr schwierig für mich. Ich bin mein ganzes Leben lang ein bescheidener Mensch gewesen. Aber wie heißt es in 'Der Meister und Margarita'? Ein Mensch weiß nie, was in den nächsten fünf Minuten mit ihm passiert."
    Der Roman "Der Meister und Margarita" des russischen Schriftstellers Michail Bulgakow ist ein Klassiker aus der Stalinzeit. Daran kann man sich hier durchaus erinnert fühlen. Auch damals baute das System des Diktators darauf, dass Bürger ihre Mitmenschen anschwärzen. Viele taten dies, um so zu versuchen, sich selbst vor Verfolgung zu schützen.
    ZDF
    Bulgakows Roman "Der Meister und Margarita" spielt im Russland unter Stalin. Die Neuverfilmung weist ungeahnte Parallelen zur heutigen Zeit und zu Putins Propagandaapparat auf. 07.03.2024 | 3:07 min

    System um Wladimir Putin: Stalinismus reloaded

    Auch heute setzt das System Wladimir Putin zunehmend auf das Denunziantentum. Die Anklage lautet dann auf Diskreditierung der Armee, Diskreditierung des Präsidenten oder Verbreitung von Fake News. Warum geben sich Menschen wieder dafür her, ihre Mitmenschen anzuschwärzen? Die Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa sagt dazu:

    Es ist die Angst, nicht dazuzugehören. Zur Mehrheit, die durch Propaganda, durch das Fernsehen, beeinflusst ist. Durch die Signale, die die Macht in die Masse sendet.

    Irina Scherbakowa, Menschenrechtsorganisation "Memorial"

    Scherbakowa ist Chefin der Menschenrechtsorganisation "Memorial", die die Verbrechen des Stalinismus aufarbeiten wollte und dafür mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde.
    Sie beschreibt die Angst genau: Es sei "diese Angst, die noch von dem Massenterror in den 1930er Jahren über Generationen verinnerlicht und weitergegeben wurde. Angst vor allem, was vielleicht aus der Reihe tanzt. Angst davor, selbst als jemand denunziert zu werden, der das gutheißt." Scherbakowa hat ihre Heimat längst verlassen.
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    Er täuscht seine Gegner, verbreitet Angst und Schrecken und gibt sich als neuer Zar. Wladimir Putin herrscht mit eisernen Mitteln. Ist Russlands Präsident wirklich unberechenbar?15.03.2024 | 21:10 min

    Russland: Täglich Prozesse gegen Kreml-Gegner

    Jeden Tag finden irgendwo in Russland solche Prozesse statt, gegen Oppositionelle, Aktivisten, Künstler und zuletzt auch gegen immer mehr eigentlich unauffällige Bürger. In Moskau standen fast ein Jahr lang die Theaterregisseurin Jewgenija Berkowitsch und die Dramaturgin Swetlana Petrijtschuk vor Gericht. Einer im Publikum hatte sie angezeigt, dass ihr Stück den Terrorismus verherrliche. Dafür wurden sie zu jeweils sechs Jahren Lagerhaft verurteilt.
    Auf YouTube fordert Dmitrij Muratow von seinen Landsleuten Solidarität mit den Frauen. Auch er, der ehemalige Chefredakteur der Zeitung "Nowaja Gazeta", ist Träger des Friedensnobelpreises und eine der wenigen kritischen Stimmen, die sich noch aus Russland zu Wort melden.

    Es ist mittlerweile so, als ob in den Gerichten gar keine lebendigen Richter und Ankläger mehr wären. Als ob da Drohnen Menschen ins Visier nähmen und Urteile einfach über ihnen abwerfen. Sechs Jahre! Sechs Jahre!

    Dmitrij Muratow, russischer Journalist und Friedensnobelpreisträger

    Die Kinderärztin Nadeschda Bujanowa ist eine von vielen, die in Untersuchungshaft auf ihr Urteil warten. Es könnten mehrere Jahre Lagerhaft werden. Im Gerichtssaal ist auch die Denunziantin, die Mutter des Kindes, vor dem Bujanowa den Krieg kritisierte. Sie schaut trotzig in den Saal auf ihr Opfer. Weil sie sich offensichtlich in Putins Reich im Recht fühlt.
    Armin Coerper leitet das ZDF-Studio in Moskau.
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