Militärexperte: Russland spielt mit Ukraine

    Ukraine militärisch unter Druck:Militärexperte: Russland spielt mit Ukraine

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    Die Ukraine gerät weiter unter Druck, Russland setzt auf Zermürbung und bereitet offenbar eine Großoffensive vor. Die Lage ist ernst, sagt Militärexperte Reisner bei ZDFheute live.

    Militärexperte Oberst Markus Reisner bei ZDFheute live
    Russland sei derzeit massiv überlegen, so Oberst Reisner. Die Ukraine versuche durch die Verlagerung von Reserven, den Angriffen etwas entgegenzusetzen. Es fehle aber an Nachschub.04.04.2024 | 12:16 min
    Im russischen Angriffskrieg stehen die ukrainischen Streitkräfte an mehreren Frontabschnitten unter Druck. Ihr größtes Problem: ausbleibende Militärhilfe, vor allem fehlt es an Munition. Kiews Armeechef Oleksandr Syrskyj spricht von einer Artillerieüberlegenheit Russlands von 6:1. Die ukrainischen Soldaten kämpften dagegen mit "wenig oder gar keinen Waffen und Munition". Zugleich deutet vieles darauf hin, dass Russland eine neue Offensive vorbereitet, von der Mobilisierung von 300.000 weiteren Soldaten ist die Rede.
    Der österreichische Militärexperte, Oberst Markus Reisner, ordnet die Lage bei ZDFheute live ein - sehen Sie das Interview oben im Video oder lesen Sie es hier in Auszügen:

    Wie ist aktuell die militärische Lage?

    "Die Situation ist sehr ernst", sagt Oberst Reisner. Das gehe aus Aussagen von ukrainischen Offiziellen hervor. So habe Präsident Selenskyj gesagt, wenn sich die Ressourcenlage nicht signifikant zugunsten der Ukraine verbessere, seien seine Truppen faktisch gezwungen, zurückzuweichen. Auch Außenminister Kuleba habe darauf hingewiesen, dass mehr Patriotsysteme nötig seien, um den russischen Luftangriffen etwas entgegenzusetzen.

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    Russland versuche aktuell, an mehreren Stellen einen Durchbruch zu erzielen. Westlich von Awdijiwka gebe es heftige Kämpfe mit den ukrainischen Streitkräften. Auch bei Bachmut sei die Situation ähnlich und in Kürze sei auch im Raum Kupjansk eine Offensive zu erwarten, denn dort hätten die Russen signifikant Kräfte zusammengezogen.
    "Die Russen haben mittlerweile knapp über 500.000 Mann im Einsatz" - das seien zweieinhalb mal so viele Soldaten wie beim Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022. Möglicherweise werde Russland noch 300.000 Soldaten mobilisieren. Das werde den Russen "signifikant mehr Kräfte geben, um in die Offensive zu gehen".
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    Die Ukraine steht weiter unter Druck: Präsident Selenskyj befürchtet, dass Putin 300.000 neue Soldaten an die Front schickt. Oberst Reisner ordnet bei ZDFheute live die Lage ein.04.04.2024 | 29:16 min

    Wie ist das konkrete Vorgehen der Russen?

    Es gebe drei verschiedene Ebenen des Vorgehens, erläutert Militärexperte Reisner. Auf der gefechtstechnisch-taktischen Ebene versuche Russland, mit Formationen von mechanisierten Verbänden anzugreifen. Auf der operativen Ebene setze Russland entlang der 1.200 Kilometer langen Front an verschiedenen Stellen gleichzeitig an, um die Ukraine zu zwingen, "ihre kostbaren Reserven zu verbrauchen". Und auf der strategischen Ebene versuchten sowohl Russland als auch die Ukraine, Reserven nachzuschieben.

    Hier wissen wir, dass die Ukraine zunehmend ins Hintertreffen kommt.

    Auf dem Gefechtsfeld sehe man die klassischen Angriffsverfahren der russischen Streitkräfte: "Die erste Welle wird meistens im Prinzip dazu verwendet, um die Ukrainer zu zwingen, aus den Stellungen heraus das Feuer zu eröffnen", sagt Reisner. Das werde von russischen Drohnen beobachtet. "In einer zweiten Phase wird dann das Feuer auf diese erkannten Stellungen gerichtet." Und in einer dritten Phase würden dann die russischen Eliteverbände angreifen. So schafften es die Russen, Meter für Meter "vorzumarschieren".

    Wann könnte die nächste russische Offensive drohen?

    Traditionell sei es so, dass in dem Gebiet die sogenannte Schlammperiode einmal beim Übergang vom Spätsommer in den Herbst/Winter und dann beim Übergang vom Winter ins Frühjahr bzw. in den Sommer einsetze, erklärt Reisner.

    Diese Phase ist jetzt auch zu erwarten. Wenn der Boden wieder eintrocknet, dann kann man erwarten, dass die offensiven Bewegungen wieder beginnen.

    Daher sei dann mit der russischen Frühjahrs- oder Sommeroffensive zu rechnen. "Das leitet die nächste Phase dieses Krieges ein."
    ZDF-Reporter Henner Hebestreit bei ZDFheute live
    Obwohl es Wut über ausbleibende Waffenlieferungen gebe, überwiege in der Ukraine der Gedanke, als Teil der freien Welt gegen das Böse zu kämpfen, so ZDF-Reporter Hebestreit. 04.04.2024 | 4:33 min

    Kann die Ukraine der drohenden Offensive etwas entgegenhalten?

    Allein von der verfügbaren Anzahl von "Wehrpotenzial" gebe es bereits ein großes Ungleichgewicht, sagt Reisner. "Wir haben auf der einen Seite Russland mit knapp 150 Millionen Menschen und auf der anderen Seite die Ukraine mit 45 Millionen Menschen, von denen ein nicht geringer Anteil bereits geflüchtet bzw. im Krieg bereits eingesetzt ist." Die Ukraine versuche, weitere Soldaten zu mobilisieren, so sei inzwischen das Alter für die Einziehung von 27 auf 25 Jahre herabgesetzt worden.
    Das Dilemma sei, dass diese Soldaten Waffen und Gerät bräuchten. Die Ukraine versuche aktuell, Brigaden aufzustellen, um sich für einen möglichen Gegenangriff vorzubereiten. Doch vor wenigen Tagen habe es die Hiobsbotschaft gegeben, berichtet Militärexperte Reisner, "dass einige dieser Brigaden nicht mehr ausgestattet werden können mit Gerät", es seien also reine Infanteriebrigaden, Fußsoldaten. "Das zeigt, wie prekär die Situation ist."

    Oberst Markus Reisner im Gespräch mit Moderatorin Victoria Reichelt bei ZDFheute live.
    Quelle: ZDF

    ... Jahrgang 1978, ist Militäranalytiker, Historiker und selbst aktiver Soldat beim österreichischen Bundesheer. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges analysiert Reisner die Lage in der Ukraine und leitet seit September die Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien. (Quelle: Kral-Verlag)

    Wie wehrt sich die Ukraine aktuell gegen die russischen Angriffe?

    Die Flugabwehr der Ukraine habe einen entscheidenden Einfluss auf den weiteren Verlauf des Krieges, sagt Reisner. Allein im März habe Russland entlang der Front etwa 3.000 Gleitbomben eingesetzt, zudem seien 600 iranische Drohnen und rund 400 Marschflugkörper gegen Ziele in der Ukraine zum Einsatz gekommen. "Das ist eine enorme Zahl." Die Ukraine brauche vor allem Flugabwehrsysteme und Munition, um sich gegen solche Angriffe zu wehren.
    Im Moment versuche die Ukraine, durch eine Verlagerung von Reserven an der Front und durch lokale Bildung von Kräften, diesen Angriffen etwas entgegenzusetzen.

    Aber Russland spielt hier - ich erlaube mir diesen Vergleich - wie an einem Flipperautomaten mit den Ukrainern: Eine Kugel wird dort und dort hingeschossen, die Ukrainer eilen die ganze Zeit hinterher, und die Ukraine hat den Nachteil, dass sie sich hier quasi langsam verbraucht.

    Das Land bräuchte zusätzliche Ressourcen, zusätzliche Kräfte, um diesem Spiel der Russen etwas entgegensetzen zu können.
    Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:

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    Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.
    Auf dem Bild sieht man ukrainische Soldaten von hinten.
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