Russlands neue Taktik: Wie Moskau Kiew im Luftkrieg zusetzt

    Analyse

    Russlands neue Taktik:Luftangriffe: So setzt Moskau Kiew zu

    von Christian Mölling und András Rácz
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    Russland versucht sich an einer neuen Luftangriffstaktik: Es spaltet Kiews Flugabwehr und schwächt sie dadurch, bisher mit Erfolg. Daran hat auch der Westen Anteil - unfreiwillig.

    Ulf Röller
    "Selenskyis Besuch zeigt, dass die Ukraine mit dem Rücken zur Wand steht", so ZDF-Korrespondent Ulf Röller zum Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe in Ramstein.06.09.2024 | 3:28 min
    In der vergangenen Woche hat Russland eine Reihe von verheerenden kombinierten Raketen- und Drohnenangriffen auf ukrainische Städte durchgeführt. Die Zahl der Opfer hat bereits 300 Tote und Verwundete überschritten. Die russischen Angriffe richten sich sowohl gegen militärische als auch gegen infrastrukturelle Ziele, treffen aber gelegentlich auch rein zivile Objekte, wie zum Beispiel am 4. September in der Innenstadt von Lviv.
    Diese Angriffe tief ins Landesinnere (sogenannte "Deep Strikes") in Verbindung mit den Angriffen auf Kiew in der Vorwoche liefern gewisse Erkenntnisse über die neuesten Muster des russischen Luftkriegs gegen die Ukraine.
    Die Grundzüge der neuen Taktik Russlands - ein Überblick:

    1. Ausdünnen der Luftverteidigung

    Zunächst scheint Russland die Ziele in die gesamte Ukraine zu verlagern, indem es seine Raketen auf immer neuere Städte konzentriert. Sie trafen Kiew, dann Kryvy Rih, dann Poltawa, dann Lviv, dann wieder Kiew sowie Dnipro, Odessa und Charkiw.
    Die Logik hinter der häufigen Verlagerung der Ziele besteht darin, die Ukraine zu zwingen, ihre fortschrittlicheren Luftabwehrsysteme über das ganze Land zu verteilen, so dass ihre Konzentration nirgendwo zu hoch sein kann. Da die Ukraine immer noch nicht über eine ausreichende Zahl moderner Luftabwehrsysteme verfügt, wären sonst ganze Regionen nur sehr schwach verteidigt.
    Retter arbeiten am Standort eines Wohngebäudes, das während eines russischen Drohnen- und Raketenangriffs während des russischen Angriffs auf die Ukraine in Lemberg, Ukraine, am 4. September 2024 beschädigt wurde.
    Russland hat seine massiven Luftangriffe auf ukrainische Städte auch in der Nacht zu Mittwoch fortgesetzt. Ein Ziel war erneut die Hauptstadt Kiew, aber auch Lemberg im Westen.04.09.2024 | 0:24 min

    2. Raketen als Köder

    Russland hat gegen besser verteidigte Ziele eine neue Taktik entwickelt, bei der die Hyperschallraketen nicht nur als Primärschlagwaffen, sondern auch als Köder eingesetzt werden. Sobald diese gestartet sind, konzentriert die Ukraine ihre modernsten Luftabwehrsysteme, einschließlich der Patriots, auf sie, um sie aufgrund der extremen Zerstörungskraft dieser Raketen abzuschießen.
    Doch während die modernen Luftabwehrsysteme durch die Hyperschallraketen abgelenkt werden, können langsamere Raketen, manchmal auch Angriffsdrohnen, die Abwehr überwinden.  Russland hat diese Taktik zum ersten Mal im Juli erprobt, als es das Okhmatdit-Kinderkrankenhaus in Kiew getroffen hat, und ist nun offenbar zu ihr zurückgekehrt.
    02.09.2024: Ein Blick auf Wohnhäuser, die während eines russischen Militärangriffs im Rahmen des russischen Angriffs auf die Ukraine in der Frontstadt Chasiv Yar in der Region Donezk schwer beschädigt wurden.
    Bei einem russischen Angriff in der ukrainischen Region Poltawa sind nach Angaben von Präsident Selenskyj mindestens 41 Menschen getötet worden. Über 180 Menschen wurden verletzt.03.09.2024 | 0:17 min

    3. Nutzung des belarussischen Luftraums

    Die russischen Angriffe haben begonnen, den belarussischen Luftraum häufiger zu nutzen, um sich ihren Zielen zu nähern. In einigen Fällen haben sie offenbar eine Fehlfunktion und fliegen weiter über Weißrussland - es gab bereits einen Fall, in dem ein weißrussischer Kampfjet eine dieser Drohnen abschießen musste und damit den ersten Luftkampfsieg der weißrussischen Luftwaffe überhaupt errungen hat.
    Bei einigen dieser Drohnen handelt es sich möglicherweise erneut um Köder, was jedoch nicht genau definiert werden kann, da Weißrussland, ein sehr enger Verbündeter Russlands, die Wrackteile nicht offenlegt.



    4. Übersättigung bleibt Grundproblem von Flugabwehr

    Trotz der ständig wachsenden Zahl moderner Luftabwehrwaffen kann die ukrainische Verteidigung in der Tat immer noch überfordert sein und gelegentlich lokal überwältigt werden. Daher braucht die Ukraine unbedingt mehr Luftverteidigungssysteme, vorzugsweise moderne High-Tech-Systeme.
    Auch weniger technologische Optionen werden dringend benötigt, wie zum Beispiel schultergestützte Raketen, schwere Maschinengewehre auf Lastwagen und mit Maschinengewehren bewaffnete Leichtflugzeuge und Hubschrauber, die zum Abschuss russischer Angriffsdrohnen eingesetzt werden können.

    5. Energieinfrastruktur permanentes Ziel

    Russland konzentriert seine Luftangriffe offenbar auf den ukrainischen Energiesektor und bereitet sich bereits auf den Winter vor. Da die ukrainische Flugabwehr noch immer nicht in der Lage ist, diese Angriffe vollständig abzuwehren, werden die Schäden an der Energieinfrastruktur immer größer.
    Da Russland seine intensiven Angriffe höchstwahrscheinlich fortsetzen wird, könnte der kommende Winter für die ukrainische Zivilbevölkerung sehr viel härter werden als jeder der bisherigen Winter seit Februar 2022.
    Wolodymyr Selenskyj
    Die schweren russischen Angriffe auf die Ukraine setzen sich fort und fordern weiter Todesopfer. Indes kündigt Präsident Selenskyj eine Neuaufstellung seiner Regierung an.05.09.2024 | 2:05 min

    Fazit: (Un)überwindbares Dilemma

    Eine Verteidigungsstrategie, die sich nur auf die Abwehr von Angriffen konzentriert, nutzt nicht alle militärischen Mittel, die möglich wären und es kommt zu Erfolgen der Gegner - trotz aller Abwehrmaßnahmen.
    Luftverteidigung ist ein besonders eklatantes Beispiel: Sobald der Gegner mehr Raketen abfeuert, als der Verteidiger Abwehrsysteme in der Zielregion hat, wird ein Teil der Angriffe durchkommen. Dabei geht es nicht um die Gesamtanzahl der Systeme, sondern darum, wieviele Abwehrsysteme ein bestimmtes Gebiet schützen können. Diese Zahl kann der Verteidiger nicht so schnell ändern, wie der Angreifer das Zielgebiet.
    Der Westen zwingt die Ukraine in diese Strategie der überwindbaren Verteidigung, weil er einen Angriff auf das Grundproblem - die Starteinrichtungen der russischen Raketen - weitgehend ausschließt. Damit stellt der Westen den weiteren Erfolg russischer Angriffe sicher, egal wieviele Flugabwehrsysteme er liefert.
    Henner Hebestreit
    Die Ukraine wolle "vor allem Hilfe, Unterstützung und Klarheit". Es müsse "vorangehen", berichtet Henner Hebestreit, ZDF-Reporter über die Erwartungen an das Treffen in Ramstein.06.09.2024 | 2:54 min
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