Irina Scherbakowa: Was hat Putin aus Russland gemacht?

    Interview

    Expertin Irina Scherbakowa:Was hat Putin aus Russland gemacht?

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    Vor 25 Jahren wurde Wladimir Putin zum russischen Ministerpräsidenten ernannt. Heute ist er Alleinherrscher. Was könnte nach ihm kommen? Fragen an Putinkennerin Irina Scherbakowa.

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    Vor 25 Jahren, am 9. August 1999, wurde Wladimir Putin zum russischen Ministerpräsidenten ernannt. Von Boris Jelzin - Russlands damaligem Präsidenten. Er vertraute dem ehemaligen KGB-Mann ein Land im Umbruch an - das Putin im vergangenen Vierteljahrhundert zu einer Autokratie umgebaut hat. Irina Scherbakova, Germanistin, Historikerin und Mitbegründerin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, hat diesen Umbau von Beginn miterlebt.
    ZDFheute: In der Silvesternacht von 1999 auf 2000 übergab Jelzin das Präsidialamt in einer Ansprache an Wladimir Putin. Wie haben Sie damals reagiert, als Jelzin Putin zum Nachfolger machte?
    Irina Scherbakowa: Ich habe die Fernsehansprache damals im Fernsehen gehört - und mir ist vor Schreck die Kaffee-Packung aus der Hand gefallen. Ich habe von Anfang an gesagt, dass dies die schlimmste aller möglichen Entscheidungen ist. Und dass wir dem, was jetzt auf uns zukommt, wenig entgegenzusetzen haben.

    Irina Scherbakowa
    Quelle: dpa

    ... ist Germanistin, Historikerin und Mitbegründerin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial. 2022 wurde die Organisation mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Nach Russlands Invasion in die Ukraine 2022 verließ sie Russland. Heute lebt sie in Deutschland.

    ZDFheute: Was war Wladimir Putins Versprechen, als er an die Macht kam?
    Scherbakowa: Die Signale [an die Menschen in Russland] waren sehr deutlich, sich nicht in die Politik einzumischen. Nach dem Motto: Der Staat weiß es besser. Das Narrativ war: 'Schaut wie schlimm euer Leben in den 90ern war, wozu ein schwacher Staat führte, was ihr von all diesen sogenannten Freiheiten, von der Demokratie, hattet. Lasst uns wieder einen starken Staat haben, einen starken jungen Führer und nicht diesen schlecht führenden, saufenden Jelzin.'

    Die 90er wurden in einem sehr schlechten Licht dargestellt - und im Gegensatz dazu, versprach er den Menschen ein stabiles Leben.

    Irina Scherbakowa

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    ZDFheute: Wie hat die russische Gesellschaft darauf reagiert?
    Scherbakowa: Durch das boomende Öl- und Gasgeschäft gab es einen Geldregen - der in den Köpfen der Menschen das Narrativ von vermeintlicher Stabilität und Putinschem Wohlstand verfestigte. Und mit dem Geld ging ein wachsender Nationalismus und Selbstüberhöhung einher: Dass wir dieses großartige Land, immer noch größte Land der Welt, haben. Dass wir so viele Rohstoffe haben, wie nirgendwo sonst auf der Welt. Dass Europa abhängig ist von uns, von unserem Öl, von unserem Gas.
    Das schürte Ressentiments gegen andere Länder. Es gab es keinen kritischen Umgang mit der eigenen historischen Verantwortung - sondern im Gegenteil die Frage: Warum soll Russland immer an allem schuld sein?
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    ZDFheute: Wie hat sich Russland denn seither - und bis heute -verändert?
    Scherbakowa: Putin hat es in den vergangenen Jahrzehnten vor allem geschafft, einen großen Gewaltapparat zu schaffen. Und dieser wurde immer größer, neue Strukturen wurden geschaffen und verstärkt. Und weil das System immer mehr Gewalt anwandte, stieg die Angst.

    Etwa bei der Niederschlagung von Demonstrationen, als jeder sah, dass diese Regierung nun bereit war, Menschen auf der Straße zu schlagen, sie sogar zu foltern.

    Irina Scherbakowa

    Putin hat aus der Bevölkerung eine Masse von Menschen gemacht, die eingeschüchtert und ängstlich ist, die andere denunzieren, die sich anpasst, versteckt, versucht zu überleben und die Situation um sie herum verdrängt.
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    ZDFheute: Sie haben Putin schon persönlich getroffen. Wie würden Sie seinen Charakter beschreiben?
    Scherbakowa: Er ist ein Lügner. Er lügt die ganze Zeit. Und er hält das meiner Meinung nach absolut nicht für eine schlechte Eigenschaft. Denn es liegt in seiner Natur. Es ist sein Weg, um Feinde zu bekämpfen und um bestimmte politische Aufgaben zu erfüllen.
    Ich habe ihn persönlich erlebt, 2002 beim 2. Petersburger Dialog in Weimar. Da hatte er sich unter anderem auch über unsere Arbeit bei Memorial informiert. Das hat in ihm keine Reaktion ausgelöst. Ich saß ganz nah bei ihm und beobachtete, wie er reagierte, und ich sah, dass er im Gegensatz zu Jelzin ein Mann mit einem ziemlich jungen Gehirn war, dass er reaktionsschnell ist, sehr gerissen, sehr verklemmt.
    Was ich zudem sah, war ein absoluter Mangel an menschlicher Empathie. Er kann so tun, als wäre er ein Populist, er kann ihre Sprache sprechen, er kann sogar einigen seiner früheren Kameraden eine gewisse Loyalität entgegenbringen, aber er kann nicht Empathie spielen. Das ist für ihn völlig unmöglich, und das hat man schon oft gesehen.

    Das Butscha-Massaker etwa löste weltweit Entsetzen aus. Putin ehrte die beteiligten Einheiten hingegen.

    Irina Scherbakowa

    Und dieses Verhalten, diese Aggressivität, der Mangel an Empathie, das breitet sich aus wie ein Tumor. Und das wird vom Regime übernommen.
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    ZDFheute: Und was könnte in Russland nach Putin kommen?
    Scherbakowa: Ich glaube nicht, dass - falls er etwa im Amt sterben sollte - die Menschen danach auf die Straßen gehen und rufen werden: 'Hurra, der Diktator ist tot, jetzt beginnt die Demokratie!' Vieles wird davon abhängen, wie ein möglicher Nachfolger mit dem Krieg umgeht. Der Krieg gegen die Ukraine ist stark mit der Figur Putins verbunden. Und die Frage wird sein: Wird der Krieg weitergeführt? Oder werden doch langsam Verhandlungen mit dem Westen einsetzen?
    Dabei dürfen wir nicht vergessen: In Putins Machtzirkel sind Leute, die Verbindungen zum FSB und zu Geheimdiensten haben, Kumpanen aus Putins Zeit in St. Petersburg. Und die - anders als etwa bei der Parteielite Ende der 80er-Jahre - viel mehr an errungener Macht und Geld zu verlieren haben. Auch nach Putin werden diese Leute versuchen, ihre Macht und ihr Vermögen zu verteidigen.

    Diese Leute haben etwas, für das es sich in ihren Augen lohnt, Blut zu vergießen. Und das ist eine schreckliche Vorstellung.

    Irina Scherbakowa

    Denn auf der anderen Seite gibt es auch Leute, die etwas von deren Vermögen abhaben wollen. Zum Beispiel diejenigen, die jetzt in diesem schrecklichen, absolut falschen Krieg kämpfen - und irgendwann zurückkehren. Die wollen auch ihren Anteil haben.
    Das Interview führten Joachim Bartz und Katja Belousova von der Redaktion ZDF frontal.

    Eine Person hält ein Smartphone in der Hand. Darauf ist der WhatsApp-Channel der ZDFheute zu sehen.
    Quelle: ZDF

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