Martinique: Proteste und Gewalt wegen hoher Kosten

    Interview

    Martinique in der Karibik:Paradies, Preisprobleme und Proteste

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    Die Karibikinsel Martinique lockt mit traumhafter Natur. Doch in der Bevölkerung kocht die Stimmung, Proteste und Gewalt sind die Folge. Das Leben auf der Insel: viel zu teuer.

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    Tagsüber brennt die Sonne, nachts die Autos: Im französischen Tropenidyll Martinique laufen seit vergangenen September die Gemüter heiß, friedliche Proteste schlagen um in Gewalt. Zu groß ist der Frust in der Bevölkerung über die teuren Lebenshaltungskosten. Rund 40 Prozent müssen die Einwohner mehr für Lebensmittel bezahlen im Vergleich zum französischen Festland. Und die galoppierende Inflation der letzten Jahre hat die angespannte Stimmung noch angeheizt.
    Im Interview mit ZDFheute spricht Historiker und Politologe Zaka Toto über die Gründe und die historischen Wurzeln der aktuellen Unruhen. Er forscht und lehrt an der Université des Antilles und ist Präsident des Thinktanks "La Fabrique décoloniale".
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    ZDFheute: Was sind die Ursachen für die zuerst friedlichen und nunmehr immer gewalttätigeren Proteste in Martinique?
    Zaka Toto: Alles begann im Juli 2024, als eine Bürgerbewegung die großen Supermarktketten dazu aufforderte, die Preise zu senken beziehungsweise sie denen des französischen Festlands anzugleichen. Die Problematik besteht schon seit langem.

    Martinique gehört zu den Kleinen Antillen in der Karibik. Politisch ist die Insel eine ehemalige Kolonie und heutiges Übersee-Département Frankreichs, gehört damit zur Europäischen Union.

    Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene leiden unter Perspektivlosigkeit: Über 30 Prozent der 15 bis 29-Jährigen sind arbeitslos. Der Ausbruch der Gewalt ist auch ein Schrei nach Aufmerksamkeit - mit negativen Folgen für die lokale Wirtschaft, deren Haupteinnahmequelle der Tourismus ist. Der Großteil der Lebensmittel und Konsumgüter werden aus Frankreich importiert. So lebt die ehemalige Kolonie weiterhin in Abhängigkeit von Frankreich.

    ZDFheute: Inwiefern?
    Bereits 2009 kam es in Martinique, Guadeloupe und Französisch-Guyana [Anm. d. Redaktion: des Übersee-Départements] zu Streiks. Das hat einerseits mit unserer Insellage zu tun und der geografischen Distanz zu Frankreich. Wir produzieren zu wenig und die Versorgungsquellen für bestimmte Güter sind nicht genügend diversifiziert. (…) Aufgrund der wirtschaftlichen Schwäche mangelt es auch an Arbeitsplätzen. Offiziell leben 30 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Einige Studien sprechen von bis zu 40 Prozent.
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    ZDFheute: Werden Lebensmittel höher besteuert als auf dem Festland?
    Toto: Es gibt hier eine Sondersteuer, "Octroi de mer" genannt, die unabhängig vom Zentralstaat Frankreich (?) auf kommunaler Ebene erhoben wird, für Autonomie sorgen und strategische Entwicklungen finanzieren soll. Das Problem ist, dass diese Steuer auf die unterschiedlichsten Sachen erhoben wird, also nicht nur auf importierte Lebensmittel und Konsumgüter. Die Steuer taucht auch auf der Wasserrechnung auf.
    Das Trinkwasser, das hier in Martinique gewonnen wird, wurde doch nicht aus Frankreich importiert! Darauf dürfte die Steuer nicht erhoben werden. Das ist einer der Gründe dafür, dass die Preise für bestimmte Produkte hier höher sind. (…) Andererseits schlagen aber auch die tatsächlichen Transportkosten und die hohen Margen der Händler zu Buche.
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    ZDFheute: Die Proteste fordern den Staat zum Handeln auf. Vernachlässigt Frankreich seine Überseegebiete?
    Toto: Absolut. Die Problematik betrifft alle ehemaligen Kolonien: Martinique, Guadeloupe, Französisch-Guyana und La Réunion im Indischen Ozean. Diese Gebiete gehören seit fast fünf Jahrhunderten zu Frankreich. Hier wurden Rohstoffe gefördert, fand Ausbeutung und Sklaverei statt.
    Erst ab den 1960er Jahren wurde über Entwicklungs- und Förderungsstrategien nachgedacht, damit diese Gebiete auf eigenen Beinen stehen können. Es ist ein fortwährendes Aufholen nach 350 Jahren Kolonisierung. (…) Wir laufen dem Festlandfrankreich hinterher, Infrastrukturen und andere Dinge sind im Vergleich unterentwickelt, auch wenn wir auf dem Papier französische Staatsbürger sind.
    Und es wurde auch nichts für die regionale wirtschaftliche Entwicklung getan, dafür dass wir mit unseren Nachbarn leichter Handel betreiben können. Wir sind wirtschaftlich von Frankreich abhängig. Natürlich kam es zu sozialen Fortschritten, aber die wirtschaftlichen Grundpfeiler fehlen und das führt zu fortlaufenden Problemen.
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    ZDFheute: Welche Probleme sind das?
    Toto: Der Großhandel ist zum Beispiel in der Hand der reichsten Bürger der Insel, die wiederum Nachfahren der ehemaligen Kolonialherren und Sklavenhalter sind. Der wirtschaftlichen Dimension - die Problematik des teuren Lebens - fügt sich hier also auch eine historische Dimension hinzu, die man nicht verneinen, ignorieren kann. Es hat einen kolonialistischen und rassistischen Beigeschmack.
    Die alten Wunden sind noch da (…) und der Staat greift hier nicht ausreichend regulierend ein, obwohl er eine historische Mitschuld trägt.
    Das Gespräch führte Veit Blümlhuber.

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