Nahost-Eskalation in Beirut: Angst vor permanentem Krieg
Interview
Leben in Beirut:Die Angst vor einem permanenten Krieg
von Golineh Atai
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Ronnie Chatah hat seinen Vater bei einem Anschlag der Hisbollah verloren. Warum der Mord am Hisbollah-Chef für ihn kein Abschluss ist und wie er die Lage im Libanon sieht.
Die Hisbollah-Miliz und das israelische Militär sind im Krieg. Die Zivilgesellschaft auf beiden Seiten die Leidtragenden. Besonders im Libanon tun sich jetzt immer mehr Risse auf. 15.10.2024 | 2:58 min
Der Libanon war bereits vor der Eskalation in Nahost gezeichnet: Seit zwei Jahren gibt es keinen Präsidenten, sondern nur eine geschäftsführende Regierung. 2020 gingen die Bilder der Explosion am Hafen in Beirut um die Welt. Und die Wirtschaft: kollabiert.
Seit September 2024 geht das israelische Militär intensiv gegen die Hisbollah-Miliz im Libanon vor, Kämpfe begannen bereits im Oktober 2023. Mehr als 2.400 Menschen wurden seitdem getötet, fast anderthalb Million Menschen vertrieben. Ronnie Chatah lebt in Beirut. Sein Vater wurde vor Jahren getötet - bei einem Anschlag der Hisbollah-Miliz, deren Chef Hassan Nasrallah vor wenigen Wochen selbst getötet wurde. Im Interview spricht er über den Mord am Mörder seines Vaters, über Beirut und den Libanon im Krieg.
Bei Angriffen auf die libanesische Hauptstadt Beirut hat das israelische Militär Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah getötet. ZDFheute live ordnet ein.28.09.2024 | 18:13 min
ZDFheute: Wie reagierten Sie auf den Tod von Hisbollah-Chef Nasrallah?
Ronnie Chatah: Ich schrieb einen Artikel mit dem Titel "Der Mord an einem Mörder". Ich wollte begreifen, warum ich keine Erleichterung fühlte, kein Nachlassen des Schmerzes, keinen Schlussstrich. Warum der Mord [Anm. d. Redaktion: an Nasrallah] keinen Trost brachte. Ich fühlte nicht im Geringsten etwas Positives. Und die Antwort, die ich fand, war: Was passierte, ist weit weg von Gerechtigkeit. Es ist nur der Mord an einem Mörder.
Der Grund, warum der Mord für mich keinen Abschluss brachte, war, glaube ich, dass Gerechtigkeit nicht durch Kriege hergestellt werden kann. Nach meiner Erfahrung ist Gewalt kein Weg, um Frieden zu verfolgen. Gewalt bringt nur mehr Gewalt. Der Mord an Nasrallah hat weder für seine Opfer noch seine Anhänger etwas gelöst. Wir stecken beide fest und kommen nicht weiter.
Ronnie Chatah ist ein libanesischer Autor und Journalist, der in Beirut lebt. Unter anderem ist Chatah Host des Podcasts "The Beirut Banyan".
Sein Vater war ein pro-westlicher Minister und Diplomat, der 2013 bei einem Anschlag getötet wurde, der der Hisbollah zugeschrieben wird.
Ronnie Chatah ist Autor und Journalist aus Beirut. Er verlor seinen Vater bei einem Anschlag, der der Hisbollah zugeschrieben wird.
Quelle: ZDF
ZDFheute: Beschleunigt der Krieg den Zerfall des Libanon? Das Land schien zuvor bereits am Abgrund - seit zwei Jahren ohne einen Präsidenten, die Wirtschaft war kollabiert, nur eine geschäftsführende Regierung im Amt …
Chatah: Ich denke, solange in der palästinensischen Sache so gekämpft wird, dass sie dem Libanon in seinen Grenzen schadet, haben wir Libanesen ein permanentes Problem. Ein Land kann da nicht raus, ohne zusammenzubrechen. Wir sind ein Land ohne Schlussstriche.
Hamas-Chef Sinwar gilt als Drahtzieher des Massakers vom 7. Oktober 2023. Israel zufolge ist er bei einem israelischen Militäreinsatz im Gazastreifen getötet worden.17.10.2024 | 2:28 min
Schauen Sie sich meinen Kühlschrank an. Er ist voller Schrammen. Das passierte 2020, im Jahr der Hafenexplosion, der größten nicht-nuklearen Explosion der Welt, als meine Fensterscheiben zerbarsten. Tausende Verletzte, mehr als 200 Tote. Bislang wurde niemand zur Verantwortung gezogen, keine Gerechtigkeit - im Gegenteil.
Israel griff unlängst mitten in Beirut an und zielte auf einen Hisbollah-Mann - jenen, der, unter anderem, die Ermittlungen zur Hafen-Explosion verhindert hatte. Aber der Mann überlebte - stattdessen wurden mehr als zwanzig Libanesen, Zivilisten, getötet und mehr als hundert verletzt. Das ist die sich wiederholende Geschichte meines Landes.
Im August 2020 hat eine gewaltige Explosion den Beiruter Hafen und das umliegende Gebiet zerstört. Die Aufklärung läuft seitdem schleppend. Angehörige der Opfer machen nun Druck.
ZDFheute: Fürchten Sie einen langen Krieg im Libanon?
Chatah: Ich fürchte, er könnte potenziell permanent werden: Wenn es einen permanenten Konflikt gibt, wo die palästinensische Sache zur Nebensache wird und es dem iranischen Regime mehr um sein Überleben geht. Und ich bezweifle, dass es irgendeine diplomatische Initiative derzeit gibt, die den Libanon eher schützen als der Gefahr aussetzen will.
Im Krieg kann ein Land sich nicht reformieren, nicht effektiv regiert werden. Schauen wir auf die 1980er, auf die Bürgerkriegsjahre, als das Land größtenteils unregierbar war, in Machtbereiche separiert. Ich fürchte, in diesem langen Krieg werden die Libanesen auch wieder anfangen, einander zu bekämpfen.
ZDFheute: Israels Premier Netanjahu sagt, dass die Libanesen die Hisbollah bekämpfen sollen, sonst drohe eine Zerstörung wie in Gaza …
Chatah: Das ist lächerlich und gefährlich. Ich denke, je mehr Israel zerbombt, je mehr israelische Flaggen es auf libanesischem Territorium hisst, je mehr Zivilisten sterben, umso mehr öffnen sich die Libanesen der Idee des "Widerstands" gegen Israel.
Ein Jahr nach dem Hamas-Terrorangriff auf Israel kündigt die Hisbollah an, den Kampf fortzusetzen. In der Nacht trafen Raketen die Stadt Haifa, Israel griff im Libanon an.07.10.2024 | 0:24 min
Es ist ein unpopulärer Krieg. Ein Jahr nach Beginn der Kämpfe gibt es vermehrt Sympathien für den Widerstand gegen Israel - und zugleich ist wahr, dass die Hisbollah, die die libanesische Politik erstickte und lähmte, unbeliebt bleibt. Nur: Man kann eine Gruppe nicht eliminieren. Man kann ihre Führung eliminieren, aber es wird immer noch eine Organisation namens Hisbollah geben. Eine Ausmerzung funktioniert nicht.
Man muss einen konstruktiven Weg finden, um etwas zu übernehmen, was der Iran gegründet hat - und einen Weg finden, um das Militärmonopol allein dem Staat zu geben. Es braucht Diplomatie.
Das Gespräch führte Golineh Atai, Leiterin des ZDF-Auslandsstudios Kairo für die arabische Welt.
Trotz des iranischen Raketenbeschusses auf Israel hat die israelische Armee Zivilisten in mehr als 20 Ortschaften im Süden des Libanon dazu aufgerufen, ihre Häuser zu verlassen. 02.10.2024 | 1:29 min