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FAQ
Über 20 Tote bei Unruhen:Woher kommt die Wut der Kenianer?
von Alexander Glodzinski, Tim-Tih Kost
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Nach den Unruhen mit mehr als 20 Toten kommt das ostafrikanische Kenia nicht zur Ruhe. Vor allem die junge Generation fordert einen radikalen Politikwechsel.
Bei Protesten gegen die Regierung in Kenia sind erneut mehrere Menschen von der Polizei erschossen worden.
Quelle: epa
Seit rund einer Woche protestieren Tausende Kenianer gegen steigende Lebenskosten und Pläne der Regierung, weitere Steuern zu erlassen. Am vergangenen Dienstag eskalierte die Lage, nachdem das kenianische Parlament den umstrittenen Finance Bill 2024 verabschiedet hatte. Hunderte stürmten das Parlament in Nairobi, worauf die Polizei mit scharfer Munition in die Menge schoss. Mindestens 23 Menschen kamen durch Polizeigewalt ums Leben.
Kenias Präsident William Ruto verweigerte am Tag darauf seine Unterschrift und schickte das Gesetz zurück ans Parlament. Kenias Jugend will weiter protestieren und fordert den Rücktritt des Präsidenten.
"Insgesamt gab es in dem Land in mehr als 30 Städten Proteste. Es ist nicht klar absehbar, dass es sich schnell beruhigen könnte", so ZDF-Reporter Glodzinski.26.06.2024 | 3:07 min
Wie ist die aktuelle Lage?
Seit den tragischen Ereignissen am Dienstag herrscht eine angespannte Atmosphäre in Kenias Hauptstadt Nairobi. Immer wieder kommt es zu vereinzelten Demonstrationen und Zusammenstößen mit Sicherheitskräften, allerdings nicht in dem Ausmaß wie am Anfang der Woche. In vielen weiteren Städten gab es ebenfalls Proteste mit Todesopfern.
Große Unsicherheit herrscht darüber, ob das geplante Steuergesetz trotz der verweigerten Unterschrift von Präsident Ruto ganz vom Tisch ist. Auch Verfassungsrechtler und Richter sind uneinig, wie mit diesem bislang einmaligen Vorgang verfahren werden soll. Aktivisten werfen dem Präsidenten vor, das Gesetz durch die Hintertür umsetzen zu wollen.
In Kenia sind Proteste gegen ein geplantes Steuergesetz eskaliert. Einige Demonstranten stürmten das Parlament und setzten Teile davon in Brand. Jetzt hat der Präsident reagiert.27.06.2024 | 2:20 min
Im Parlament verfügt Präsident über deutliche Mehrheit
Das Parlament, in dem der Präsident über eine deutliche Mehrheit verfügt, muss nun über dessen Änderungsvorschläge entscheiden. Mit einer Zweidrittelmehrheit könnte das Parlament das Veto des Präsidenten überstimmen.
Innerhalb von 21 Tagen könnte das Parlament mit einfacher Mehrheit dem Veto zustimmen. Sollten 21 Tage ohne eine parlamentarische Entscheidung vergehen, würde es laut Verfassungsrechtlern kein neues Gesetz geben.
Unabhängig davon, ob das Gesetz verabschiedet wird oder nicht, haben Aktivisten angekündigt, weiter zu protestieren. Sie fordern den Rücktritt des Präsidenten und eine Neuausrichtung der Politik.
Was hat die jüngsten Unruhen in Kenia ausgelöst?
Der Mitte Juni verkündete Gesetzesentwurf zielt darauf ab, Kenias Haushaltsloch mit Steuermehreinnahmen von 2,3 Milliarden US-Dollar aufzufüllen. Kenias Haushalt ist mit 80 Milliarden US-Dollar verschuldet, fast die Hälfte der Schulden stammt von ausländischen Kreditgebern.
Für einen Großteil der Bevölkerung sind die geplanten Preiserhöhungen auf Alltagsgüter wie Brot, Öl, Hygieneprodukte oder Benzin eine Provokation - für viele wären sie sogar existenzbedrohend.
In Kenia hat Präsident Ruto nach gewalttätigen Protesten die umstrittene Steuererhöhung zurückgenommen. Bei den Ausschreitungen kamen mehr als 20 Menschen ums Leben.27.06.2024 | 0:22 min
Es brodelt schon lange in Kenia
Unter der Oberfläche brodelt es schon lange in Kenia. Jugendarbeitslosigkeit, Korruptionsvorwürfe und das als arrogant wahrgenommene Auftreten der politischen Elite haben das Volk von seiner Regierung entfremdet.
Mangelnde Unterstützung für die Opfer der verheerenden Überflutungen im Frühjahr 2024 hat die Unzufriedenheit verschärft. Die Jugendarbeitslosigkeit steigt in Kenia seit Jahren und liegt derzeit bei etwa 30 Prozent. Selbst gut ausgebildete College-Absolventen und Absolventinnen finden keine Arbeit.
Wie reagiert die kenianische Regierung auf die Proteste?
Auf die zu Beginn noch friedlichen Proteste hat die Polizei zunächst mit Wasserwerfern und Tränengas reagiert. Mit der Stürmung des Parlaments ist die Gewalt eskaliert. Der Verteidigungsminister hat per Erlass das Militär mobilisiert, um den Sitz des Präsidenten und weitere wichtige Einrichtungen im Land zu schützen.
Immer wieder berichten Demonstranten von in Zivil gekleideten Schlägertrupps, die Protestgruppen aufscheuchen und gezielt Menschen auf Planwagen mit verdeckten Nummernschildern laden. Auf Social-Media-Plattformen häufen sich Aufrufe von Menschen, deren Angehörige seit Tagen verschwunden sind.
Noch am Abend der Großdemo am Dienstag hatte Ruto die Demonstranten als Verbrecher bezeichnet und ihnen Verrat vorgeworfen. Am Tag darauf stoppte der Präsident das Gesetz, um weitere Proteste zu verhindern.
Die Regierung bot der Jugend einen nationalen Dialog an, um Wege aus der Krise zu finden. Aktivisten kritisierten das Angebot als zu wenig und zu spät.
- Bericht vom Parlamentssturm aus Nairobi: "Zeichen stehen nicht gerade auf Versöhnung"
Wie geht es jetzt weiter?
Trotz Rutos Kehrtwende bleibt der Zorn der kenianischen Gen Z ungebremst. Statt "Reject finance bill" rufen sie jetzt "Ruto must go". Das Vertrauen ist verloren und die Wut über die Gewalt, die Toten und die Verschleppten beherrschen die Straßen und die Social-Media-Timelines.
Die Mehrheit scheint fest entschlossen zu sein, weiter zu protestieren. Es ist die größte Jugendprotestbewegung auf dem afrikanischen Kontinent. Und anders als bei vergangenen Protestwellen, sind diesmal keine ethnischen Zugehörigkeiten das verbindende Element. Diese Protestbewegung hat ein gemeinsames Thema und ihr bislang geschlossenes Auftreten ist eine ihrer größten Stärken.
Die Regierung versucht mit allen Mitteln, eine weitere Massendemonstration zu verhindern. Der Graben scheint derzeit zu groß, als dass Kenia schnell einen Weg zurück zur Normalität finden könnte. Auf die Frage, ob sie keine Angst habe, auch zur Zielscheibe zu werden, antwortet eine Demonstrantin:
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