Zehn Jahre Völkermord an Jesiden: Warten auf Gerechtigkeit
Zehn Jahre Völkermord:Jesiden: Warten auf Gerechtigkeit
von Golineh Atai, Kairo
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Tausende wurden getötet, Kinder zu Kämpfern gemacht, Frauen als Sexsklavinnen gehalten. Zehn Jahre nach den IS-Verbrechen hoffen die Jesiden im Irak immer noch auf Sicherheit.
Ab dem 3. August 2014 wurden etwa 5.000 Jesiden von der Terrorgruppe IS brutal hingerichtet.02.08.2024 | 4:38 min
"Ich warte seit zehn Jahren auf ein Begräbnis. Wenn die Regierung uns informiert hätte über ihre Leichen, wären wir in Frieden. Wir hätten eine Beerdigung gehabt, und an ihren Gräbern geweint. Aber wir warten immer noch", schluchzt die Jesidin Laila Shamo. Sie sucht immer noch ihre Kinder, ihren Mann, ihre Familie. Liegen sie vielleicht hier?
Die Szenerie wirkt wie aus einem Kinostreifen. Ein riesiges Erdloch, fast hundert Meter tief, mitten in der Steppe. Auf dem Grund: Überreste von Menschen. Knochen und Kleidung. Der sogenannte Islamische Staat, der Teile des Nordwesten Iraks einige Jahre beherrschte, kippte hier die Leichen seiner Opfer hinein.
Quelle: ZDF
Die Jesiden sind mit geschätzt 1,5 Millionen Angehörigen eine verhältnismäßig kleine religiöse Gemeinschaft der Kurden. Die jesidische Religion ist vor mehr als 4.000 Jahren in Mesopotamien entstanden. Jesiden leben traditionell in einem pyramidenförmig aufgebauten Kastensystem - sie dürfen sich auch nur innerhalb ihrer Kaste verheiraten, sonst droht der Ausschluss aus der Gesellschaft.
Jesiden leben heute vor allem als Bauern und Viehzüchter im Sindschar-Gebirge im Nordirak, aber auch in Nordsyrien und dem Iran sowie in kleinerer Zahl in der südöstlichen Türkei. Größere Gemeinschaften gibt es außerdem in den USA, in Kanada, Australien und in Europa. In Deutschland leben etwa 200.000 Jesiden.
Jesiden glauben an einen allmächtigen Schöpfer. Sie haben aber keinen Propheten, keine Gotteshäuser und kein heiliges Buch. Ihr Glaube wird mündlich weitergegeben. Ihre Gebete verrichten Jesiden unter freiem Himmel zu Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Religiöses Heiligtum ist die Stadt Lalisch im Nordirak. Anders als im Christentum gibt es bei den Jesiden keinen Widersacher des allmächtigen Gottes. Jesiden glauben dafür an Gottes irdischen Vertreter, den Engel "Taus-i Melek", der im Zentrum ihrer Religion steht. Radikale Islamisten halten Taus-i Melek für den gefallenen Engel, also den Teufel.
Weil Jesiden keinen Teufel als Gegenpart Gottes anerkennen und auch den Namen des Bösen nicht aussprechen, sind die Anhänger der Glaubensgemeinschaft in der Geschichte immer wieder als "heimliche Teufelsanbeter" verleumdet und verfolgt worden sind – zuletzt in von den Fanatikern des so genannten Islamischen Staates (IS).
Der IS-Angriff auf die Jesiden im Sindschar-Gebirge im August 2014 hat etwa 5.000 Menschen das Leben gekostet, tausende Frauen und Mädchen wurden verschleppt, vergewaltigt und auf den Basaren von Mossul und Rakka als Sklavinnen verkauft. Jesidische Männer exekutierte der IS massenweise, viele Jungen zwangen die Terroristen in ihre Trainingslager.
Mehr als 400.000 Jesiden sind damals aus ihrer Heimat geflohen. Erst Mitte November 2015 gelang es kurdischen Einheiten aus Syrien und der Türkei, das Sindschar-Gebiet vom IS zu befreien. Bis heute gelten Tausende Jesiden als vermisst.
Seit 2014 hat die Terrorgruppe Islamischer Staat tausende Jesiden im Irak ermordet, entführt und versklavt. Nun geraten sie in der Sinjar-Region erneut zwischen die Fronten.31.07.2024 | 14:29 min
Dutzende Leichen sind noch nicht einmal identifiziert
Zehn Jahre nach der Ankunft der IS-Terrormiliz gräbt ein Expertenteam der Vereinten Nationen und des irakischen Staates die Leichen aus, um sie zu identifizieren. Einige Angehörige sind gekommen. Sie sind frustriert. Denn es ist einer der letzten Einsätze von UNITAD - der UN-Untersuchungskommission zur Aufklärung von IS-Verbrechen im Irak. Die Regierung in Bagdad hat das Mandat von UNITAD jäh beendet. Obwohl wohl noch Dutzende solcher Massengräber geöffnet und Leichen identifiziert werden müssten.
"Wir werden die bisherige Arbeit verlieren. Und Tausende IS-Mitglieder sind bislang nicht identifiziert, geschweige denn verurteilt worden. Wer die Beendigung der UN-Kommission entschieden hat, der ist auch verantwortlich für alles, was uns Jesiden angetan wurde", sagt Mahmud Barghashi, der für eine jesidische Entwicklungsorganisation arbeitet und die Ausgrabungen verfolgt.
Nach zehn Jahren hat der Irak die Regionen, wo der IS plünderte und mordete kaum wieder aufgebaut.
Quelle: AFP
"Die Internationale Gemeinschaft ist hier gescheitert"
Der UN vertrauten die Jesiden mehr als Iraks Regierung. Der Irak hat immer noch keine Gesetze, die eine Ahndung internationaler Verbrechen möglich machen. Verschwinden die gesammelten Beweise jetzt in einem Archiv? Die Hoffnung der Angehörigen auf Rechenschaft der Täter schwindet. "Wir wollten damals ein internationales Gericht. Es war klar, dass am Ende von UNITAD ein Vakuum entstehen würde. Auch die Internationale Gemeinschaft ist hier gescheitert", kritisiert Mirza Dinnayi
Dinnayi, half 2014 mit seinem Verein "Deutsch-Irakische Luftbrücke e.V" tausende Jesiden zu retten und viele Frauen nach Deutschland zu evakuieren.
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In Heimat der Jesiden fehlt es an fast allem
Während in Mossul der Wiederaufbau vorangeht, bleibt die Region Sindschar, im Nordwesten Iraks, deutlich zurück. In der historischen Heimat der Jesiden sind die meisten Häuser noch immer zerstört. Eine grundlegende Infrastruktur ist vielerorts noch mangelhaft, es fehlt Strom, Wasser, es fehlen Schulen und Krankenhäuser, es fehlen Arbeitsplätze. Fast 200.000 Jesiden leben immer noch in Zelt-Camps, in der benachbarten Autonomen Region Kurdistan.
Die Regierung in Bagdad möchte diese Zeltlager so bald wie möglich schließen. Die Einwohner sollen zurückkehren. Und tatsächlich bauen einige nun ihr Zelt neben der Ruine ihres Hauses wieder auf. "Dabei wäre es so wichtig gewesen, traumatisierte Menschen nicht in einem Zelt leben zu lassen, sondern in Häusern", sagt Nagham Nawzat Hasan, eine Frauenrechtlerin und Menschenrechtsaktivistin, die zahllose Jesidinnen psychologisch betreut hat.
Vor zehn Jahren begann der Völkermord des sogenannten Islamischen Staates an den Jesiden. Bis heute leben Hunderttausende von ihnen in Flüchtlingslagern oder im Exil.03.08.2024 | 1:31 min
Ruf nach Schutz für Jesidinnen und Jesiden
Zuweilen waren es die eigenen muslimischen Nachbarn, die sich dem IS anschlossen, Jesiden als Teufelsanbeter brandmarkten, Jesidinnen entführten und missbrauchten. Dass der Irak die Ehefrau von IS-Anführer Abu Bakr Al-Baghdadi zum Tode verurteilt habe, empfinden viele als Genugtuung - auch weil die Frauen des IS den Jesidinnen gegenüber äußerst brutal gewesen seien.
Doch die IS-Ideologie sei nicht verschwunden, berichten Opfer. "Wir hofften, dass religiöse Würdenträger im Irak die Menschen zu Toleranz, friedlichem Zusammenleben und Liebe auffordern", sagt Menschenrechtlerin Hasan.
"Wir sehen, dass IS-Angehörige frei herumlaufen im Irak. Wir wollen Garantien, dass der Völkermord von 2014 sich nicht wiederholt. Wir brauchen internationalen Schutz, internationale Unterstützung!"
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Von Stabilität keine Spur in der Region
In Sinjar fühlen sich die Jesiden bis heute nicht sicher. Nicht nur die irakische Armee patrouilliert dort. Die Jesiden sind zwischen den Fronten - ein Spielball zwischen konkurrierenden Paramilitärs. Pro-iranische Milizen und die kurdische Terrorgruppe PKK kämpfen In Sindschar um Boden und Einfluss.
Zugleich erstarkt jenseits der Grenze, im Nordosten Syriens, der IS - und verübt immer mehr Anschläge. Nichts vermittelt den Eindruck einer stabilen Region, in der eine Minderheit - die nie eine politische Vertretung hatte - sicher leben könnte.
Golineh Atai ist Leiterin des ZDF-Studios in Kairo.
Quelle: ZDF
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