Krieg in Gaza: Was Gerichte zum Völkermord-Vorwurf sagen
FAQ
Krieg in Gaza:Was Gerichte zum Völkermord-Vorwurf sagen
von Jan Henrich
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Die Stimmen, Israel würde mit seiner Militäraktion in Gaza Völkermord begehen, werden lauter. Doch offizielle Stellen sind vorsichtig bei der Verwendung des Begriffs.
Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag beschäftigt sich mit völkerrechtlichen Klagen zwischen Staaten.
Quelle: dpa
Bei pro-palästinensischen Protesten und einigen internationalen Nachrichtenseiten tauchen die Begriffe "Genozid" oder "Völkermord" im Zusammenhang mit dem israelischen Militäreinsatz in Gaza immer häufiger auf.
In der Diskussion verschwimmen dabei Grenzen zu anderen völkerrechtlichen Verbrechen. Juristisch ist der Völkermord-Vorwurf allerdings heikel und eine gerichtliche Klärung der Frage fehlt bislang.
Völkermord setzt Vernichtungswille voraus
International definiert und geächtet ist das sogenannte Verbrechen aller Verbrechen durch die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. Sie trat 1951 in Kraft als Reaktion auf den Holocaust und die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes im Zweiten Weltkrieg.
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Der Vorwurf hat seine rechtlichen Besonderheiten. Als Völkermord oder Genozid werden Handlungen bezeichnet, die in der Absicht begangen werden, eine "nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören".
Prägendes Element sei dabei vor allem der Vernichtungswille, was man der israelischen Führung bislang allerdings kaum nachweisen könne, so Daniel-Erasmus Khan, Professor für Völkerrecht von der Universität der Bundeswehr München.
Der Grund, dass der Völkermord-Vorwurf im Zusammenhang mit Israels Militäraktion in Gaza vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) dennoch so prominent diskutiert wird, habe auch damit zu tun, dass es die einzige rechtliche Möglichkeit sei, Israel als Staat überhaupt vor ein Gericht zu bringen.
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Ob das Vorgehen Israels damit einen Völkermord darstellt oder nicht, ist allerdings nicht Teil der Entscheidung. Denn bisher hat sich das Gericht nur in Eilverfahren mit dem Komplex beschäftigt. Die eigentliche Klärung der Frage im Hauptsacheverfahren könne noch Jahre in Anspruch nehmen, so Daniel-Erasmus Khan.
Wie lange Verfahren dieser Art dauern können, sieht man auch an einem anderen aktuellen Fall. Im November 2019 hatte Gambia eine Klage gegen Myanmar eingereicht. Der Vorwurf: Myanmar begehe Völkermord an der muslimischen Minderheit der Rohingya. Ein Urteil steht noch aus.
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UN-Sonderberichterstatterin: Anzeichen für Völkermord
In der Diskussion um den Völkermord-Vorwurf gegen Israel wird häufig eine Einschätzung der UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese zitiert. Sie hatte im März bekannt gegeben, dass sie "vernünftige Gründe" für die Annahme eines Völkermordes im Gazastreifen sieht. Es gebe ein Muster der Gewalt. Israels Führung würde bewusst gegen Kriegsrecht verstoßen, in dem Versuch Gewalt gegen das palästinensische Volk zu legitimieren.
Eine offizielle Position des UN-Menschenrechtsrats stellt ihr Bericht mit dem Titel "Anatomie eines Völkermordes" allerdings nicht dar. Israel hatte die Vorgehensweise von Albanese bei der Erstellung der Studie zudem scharf kritisiert und als "obszöne Verdrehung der Realität" bezeichnet. Ein Missbrauch von Zivilisten und ziviler Infrastruktur durch die islamistische Hamas sei nicht berücksichtigt.
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Aus juristischer Sicht wird zudem unterschieden zwischen:
Kriegsverbrechen
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
und Völkermord
Eine Unterscheidung, die auch bei den Vorwürfen des Chefanklägers am Internationalen Strafgerichtshofs deutlich wird. Er hatte vor wenigen Wochen Haftbefehl sowohl gegen Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und dessen Verteidigungsminister als auch gegen mehrere Hamas-Führer beantragt.
Mehrere Gerichte beschäftigen sich in Den Haag mit internationalem Recht. Ihre Zuständigkeiten sind allerdings unterschiedlich. Der Internationale Gerichtshof (IGH) ist das 1945 gegründete Gericht der Vereinten Nationen (UN) und beschäftigt sich mit völkerrechtlichen Klagen zwischen Staaten.
Unabhängig davon entscheidet der Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) über Straftaten wie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Er gehört nicht zu den Vereinten Nationen und existiert erst seit 2002. Vor dem IStGH werden keine Staaten, sondern Einzelpersonen angeklagt.
Die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ist auf schwerste völkerrechtliche Verbrechen beschränkt. Gemäß Artikel 5 des Römischen Statuts zählen dazu Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnen dabei ausgedehnte oder systematischen Angriffe gegen die Zivilbevölkerung beispielsweise durch Ausrottung, Folter oder Vertreibung.
Kriegsverbrechen meint insbesondere Verstöße gegen die Genfer Konvention durch beispielsweise vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung oder zivile Objekte wie Krankenhäuser.
Auf beiden Seiten sieht der Chefankläger Anhaltspunkte für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Völkermord ist allerdings nicht Teil der Vorwürfe, obwohl dessen Verfolgung explizit in den Zuständigkeitsbereich des Internationalen Strafgerichtshof fällt.
Jan Henrich ist Redakteur in der ZDF-Fachredaktion Recht und Justiz.