Pulitzerpreisträgerin Applebaum über Orban, Putin und Xi
Interview
Pulitzerpreisträgerin:Applebaum: Darum geht es Autokraten wie Orban
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Viele Autokraten sind demokratisch gewählt – und beginnen dann, den Rechtsstaat zu ihren Gunsten umzubauen. Die Journalistin und Historikerin Anne Applebaum über Autokratien.
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Die Pulitzerpreisträgerin und Historikerin Anne Applebaum beschäftigt sich seit Jahren mit Autokratien. Vor der Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban im Europäischen Parlament in Straßburg hat Applebaum mit ZDFheute über Orban und die EU gesprochen. Über Wladimir Putin und autokratische Warnsignale. Über Macht und Geld. Und darüber, was ihr Hoffnung gibt.
ZDFheute: Viktor Orban hat die ungarische EU-Ratspräsidentschaft unter den Slogan gestellt: "Make Europe Great Again" - eine klare Referenz an Donald Trump.
Anne Applebaum: Orban hat diesen Slogan benutzt, um Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten. Ich bezweifle sehr, dass Trump an der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft interessiert ist, oder davon weiß.
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Orban aus der EU ausschließen?
ZDFheute: Kann die Europäische Union es irgendwie schaffen, dass Ungarn wieder einen europäischen Kurs einschlägt?
Applebaum: Es ist wichtig für die Europäer, genau hinzuhören, wie Orban über sie und Europa spricht. Er spricht über sich selbst immer mit einer Distanz zu Europa, zu Ursula von der Leyen, aber auch zu anderen europäischen Staaten.
Orban sieht sich nicht als Teil der europäischen Gemeinschaft. Er sieht sich nicht als vollwertiges, funktionierendes Mitglied der Europäischen Union oder der Nato.
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Anne Applebaum, Journalistin und Historikerin
Quelle: dpa
... ist mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, schreibt unter anderem für das Magazin "The Atlantic". Ihr neues Buch "Autocracy Inc." erscheint am Donnerstag auf Deutsch. Es beleuchtet, wie die Autokraten dieser Welt sich gegenseitig stützen und unterstützen – auch wenn sie andere ideologische Vorstellungen haben. Applebaum ist mit Radoslaw Sikorski verheiratet, seit Dezember 2023 polnischer Außenminister im Kabinett von Donald Tusk.
Er stellt sich offen auf die Seite von Russland. Einem Land, das nicht nur die Ukraine besetzen und zerstören will, sondern auch offen Sabotage in ganz Europa betreibt, mit politischen Propaganda-Kampagnen.
Zumindest solange Orban Ministerpräsident ist, so scheint es mir, ist es der Europäischen Union nicht möglich, Einfluss auf ihn oder Ungarn auszuüben. Die EU wäre besser dran, wenn sie anfangen würde, ihn auszuschließen.
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Anne Applebaum, Journalistin und Historikerin
Autokratische Strukturen zurückdrehen?
ZDFheute: In Polen wurde Donald Tusk zum Regierungschef gewählt. Wie leicht ist es, autokratische Strukturen zurückzudrehen und die Demokratie wieder zu stärken?
Applebaum: Es ist sehr schwierig, den Schaden zu beheben, den eine autokratische Partei angerichtet hat, deren Ziel es war, den Staat gefangen zu nehmen. Besonders dramatisch ist die Lage im polnischen Justizsystem. Das wird über viele Jahre damit beschäftigt sein, welche Richter demokratisch legitimiert sind, welche nicht.
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ZDFheute: Sie sprachen gerade davon, dass der "Staat gefangen genommen wird" - wie funktioniert das, wie bauen Autokraten ihre Macht aus?
Demokratien werden häufig nicht durch einen Umsturz oder einen Militärputsch abgeschafft. Die meisten von ihnen brechen zusammen, weil demokratisch gewählte Staats- und Regierungschef die Regeln des Systems verändern.
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Anne Applebaum, Journalistin und Historikerin
Applebaum: Manchmal in der Justiz, manchmal beim Fluss von Information, manchmal wird das Wahlsystem geändert. Im Fall von Ungarn hat Orban die Verfassung mehrfach geändert, um seine Siegchancen zu verbessern.
"Club der Autokraten"
ZDFheute: Gibt es einen Punkt in der Geschichte, an dem dieser "Club der Autokraten" angefangen hat?
Applebaum: So vor zehn Jahren ungefähr: 2013, als die chinesische Kommunisten-Partei ein Dokument mit den Gefahren der Partei aufgelistet hat. Nummer eins auf der Liste war die westliche, konstitutionelle Demokratie. Das ist der Moment, in dem klar wurde, dass wir für die chinesische Regierung ein ideologischer Gegner sind.
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In Russland war der Wendepunkt 2014, mit der Revolution in der Ukraine und der Invasion der Krim. Das war der Moment, als Putin gesehen hat, so denke ich, was ihm in der Zukunft drohen könnte: eine breite Bewegung gegen Korruption. Denn alles, was mit Rechtstaatlichkeit zu tun hat, ist in einer gewissen Art eine Bedrohung für seine Herrschaft. Putin hat gesehen, dass er dagegen halten muss - nicht nur in Russland, sondern weltweit.
Ob in China, Iran, Belarus, Venezuela, auch in vielen afrikanischen Staaten unterstützen russische Söldner die Machthaber. All diese Länder haben erkannt, dass sie zusammenarbeiten müssen, damit der Wunsch nach Rechtstaatlichkeit und Menschenrechten nicht zu stark wird bei ihnen.
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Anne Applebaum, Journalistin und Historikerin
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ZDFheute: Sie haben von Korruption gesprochen - wie sehr geht es um Macht, wie sehr um Geld?
Es geht viel um Geld. Was die Diktatoren unseres Jahrhunderts von denen der vorherigen unterscheidet, ist, dass sie fast alle Milliardäre sind.
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Anne Applebaum, Journalistin und Historikerin
Applebaum: Oft wissen wir nicht, warum sie das Geld haben, aber wir wissen, dass sie, ihre Familie und ihre engsten Verbündeten sehr viel davon haben. Der Wunsch, dieses Geld zu beschützen ist einer der stärksten Gründe, warum sie so sehr gegen ziviles Engagement sind.
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ZDFheute: Sie haben Ihr Buch den Optimisten gewidmet: Was macht Sie optimistisch?
Applebaum: Ich bin optimistisch, wenn ich sehe, wie viele junge Menschen sich politisch engagieren, ob in den USA oder in Polen. Mehr noch als in meiner Generation. Die Leute verstehen, was auf dem Spiel steht, was wichtig ist. Diese Generation versteht, was unsere Werte sind und warum es sich lohnt für sie zu kämpfen.
Und ehrlicherweise stimmt mich die ukrainische Bevölkerung optimistisch: Seit Beginn des Krieges war ich sieben- oder achtmal in Kiew. Natürlich gibt es dort viel Leid, aber ich habe keine Indizien gesehen, dass sie aufgeben oder ihr Land opfern wollen. Die Tatsache, dass sie im Angesicht all der Herausforderungen und Hürden trotzdem kämpfen wollen, das ist großartig. Und ich glaube, dafür geben wir ihnen nicht genug Anerkennung.
Das Interview führte Lara Wiedeking, Korrespondentin im ZDF-Studio Brüssel.
Quelle: dpa
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