Fall Imamoglu: "Türkei seit langem keine Demokratie mehr"
Interview
Experte zum Imamoglu-Prozess:"Türkei ist seit langem keine Demokratie mehr"
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Der türkische Oppositionspolitiker Imamoglu muss in Untersuchungshaft. Was dahintersteckt und wie es um ihn steht, erklärt Yasar Aydin von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Türkei-Experte Yasar Aydin von der Stiftung Wissenschaft und Politik im ZDFheute live-Interview23.03.2025 | 14:38 min
In der Türkei sorgt die Untersuchungshaft des Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu für Aufsehen. Ihm werden Korruption und Terrorismus vorgeworfen.
Auf Demonstrationen in der Türkei, aber auch im Ausland wie beispielsweise gestern in Köln, zeigt sich die Beliebtheit des CHP-Politikers - und damit auch wie gefährlich er als Konkurrent für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist.
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Wie beeinflusst die Inhaftierung die Präsidentschaftskandidatur von Imamoglu? Wie steht es um den Rückhalt für Erdogan? Und wie könnte es jetzt für Imamoglu weitergehen? Darüber hat ZDFheute live mit Türkei-Experte Yasar Aydin von der Stiftung Wissenschaft und Politik gesprochen.
Sehen Sie das gesamte Interview oben im Video oder lesen Sie hier Auszüge.
Das sagte Türkei-Experte Aydin zur Frage ...
...welche Bedeutung die U-Haft Imamoglus für die Präsidentschaftskandidatur der CHP hat
Ob Imamoglu in der Zukunft tatsächlich an einer Präsidentschaftswahl teilnehmen kann, hänge vom Ausgang des Prozesses und einer möglichen Strafe gegen ihn ab, sagt Türkei-Experte Yasar Aydin.
Wenn er eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bekommt, dann darf er nicht mehr kandidieren. Die Untersuchungshaft an sich tangiert die Kandidatur nicht.
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Dr. Yasar Aydin, Türkei-Experte
Wenn er wegen des Terrorismus-Vorwurfs schuldig gesprochen würde, dürfe er nicht mehr kandidieren. Vor seiner Verhaftung am Mittwoch wurde Imamoglu sein Hochschulabschluss aberkannt - auch dieser ist eine Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur in der Türkei. Die Annulation des Abschlusses und der Prozess selbst könne juristisch angefochten werden, sagt Aydin. Wie vielversprechend das wäre, bleibt unklar.
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...was die Inhaftierung Imamoglus bezwecken soll
Türkei-Experte Aydin stuft den gesamten Prozess gegen den Oppositionsführer als politisch motiviert ein.
Er wurde in einer Nacht- und Nebelaktion verhaftet, obwohl er erst einmal zum Verhör eingeladen werden musste. Das ist nicht geschehen. Das ist nicht legal, was da passiert ist. Und wir beobachten seit mehreren Tagen, mehreren Wochen eine Kampagne gegen ihn, eine Denunziationskampagne.
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Yasar Aydin, Türkei-Experte
Das zeige laut Aydin, dass es darum gehe, die Opposition einzuschüchtern und zu verhindern, dass Imamoglu kandidiere. Ebenso solle die Opposition gespalten werden, um diese zu schwächen.
Die Beschuldigungen der Korruption und Terrorunterstützung gegen Imamoglu gehörten zum "Standardrepertoire, das gegen diejenigen erhoben wird, die für Erdogan und seine Macht gefährlich werden oder wurden", erklärt der Experte. Politische Kritiker wie Osman Kavala und Selahattin Demirtas von der prokurdischen DEM-Partei säßen seit über zehn Jahren in der Türkei in Haft.
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...wie es um den Rückhalt von Erdogan steht
Die Einschüchterung der Opposition diene auch Erdogans Machterhalt: In der Vergangenheit habe Erdogan an Popularität verloren und sei in Meinungsumfragen weniger populär als sein CHP-Herausforderer, so Aydin. Imamoglu konnte sich demnach bereits viermal gegen einen Kandidaten der AKP durchsetzen und hätte es geschafft "Erdogan den Nimbus der Unbesiegbarkeit zu nehmen".
Und auch seine Partei gewinnt in Umfragen an Zustimmung: Mit knapp 38 Prozent der abgegebenen, gültigen Stimmen sei die CHP heute die stärkste Kraft in der Türkei. Zudem verwalte die CHP rund 60 Prozent der Gemeinden, darunter nahezu alle Großstadtgemeinden, sagt der Türkei-Experte.
Erdogan hat gesehen, dass die CHP zu einem Machtfaktor geworden ist.
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Türkei-Experte Yasar Aydin
Die CHP-Kommunen seien Auftraggeber für Bauunternehmen, für Bauprojekte. Das führe dazu, dass auch Unternehmer sich von Erdogan abwenden würden, so der Experte. Wirtschaftliche Probleme wie die hohe Inflation, würden zusätzlich an der Popularität von Erdogan nagen.
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... wie es jetzt in der Türkei weitergehen könnte
Die Verhaftung von Oppositionspolitikern, das Niederschlagen von Protest gegen die Regierung: "Die Türkei ist seit langem keine Demokratie mehr", so der Experte.
Das Einzige, was von der Demokratie übriggeblieben war, waren echte Wahlen. Die Wahlen waren nie fair, aber das waren echte Wahlen, anders als in Russland oder in Ägypten. [...] Es droht, dass die Türkei sich vollends in eine Autokratie wandelt.
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Yasar Aydin, Türkei-Experte
Erdogan sei ein Machtpolitiker, für ihn zähle der Machterhalt, erklärt Aydin. Allerdings sei auch Erdogan nicht immun. Wenn die türkische Wirtschaft und die politische Lage sich weiter destabilisieren, dann könne es sein, dass er Zugeständnisse machen muss, so der Experte.
Das Interview führte Marc Burgemeister bei ZDFheute live, zusammengefasst haben es Caroline Kleine-Besten und Laura Rosinus.
Quelle: dpa
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