Kiews Vize-Ministerin: Krieg "Schande für zivilisierte Welt"
Interview
Vize-Verteidigungsministerin:Maljar: "Schande für die zivilisierte Welt"
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Die stellvertretende Verteidigungsministerin der Ukraine, Hanna Maljar, spricht im ZDF-Interview über den Kriegsverlauf und warum die Gegenoffensive so langsam voranschreitet.
Hanna Maljar, stellvertretende Verteidigungsministerin der Ukraine (r.), im ZDF-Interview.
Quelle: ZDF
ZDFheute: Frau Maljar, wie wichtig sind Taurus-Marschflugkörper aus Deutschland für die Ukraine?
Hanna Maljar: Für die Ukraine ist die Hilfe ihrer Partner bei Waffen und militärischer Ausrüstung sehr wichtig. Denn wir kämpfen in einer Situation, in der der Feind sowohl mehr Soldaten als auch Ausrüstung hat.
Die wichtigsten Waffen, die jetzt gebraucht werden, sind Waffen von großer Reichweite. Das ist Luftabwehr, das ist Munition, weil davon jeden Tag Hunderte und Tausende Stück gebraucht werden. Und Kampfflugzeuge - das ist das, was wir momentan an der Front am nötigsten brauchen.
ZDFheute: In Deutschland hat man in Bezug auf die Reichweite der Taurus-Marschflugkörper Sorge, dass die Ukraine diese auch auf russisches Gebiet abfeuern könnte. Verstehen Sie die Diskussion?
Maljar: In diesem Krieg akzeptiert die Ukraine die Normen des internationalen Rechts, wie Kriege zu führen sind. Das bedeutet, dass die Ukraine sich nur auf ihrem Territorium verteidigt. Unser strategisches Ziel ist die Befreiung unserer von den Russen besetzten Gebiete.
Die Bundesregierung zögert, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu liefern. 11.08.2023 | 30:52 min
Militärexperte Thiele betont, wie wichtig es ist, die Taurus-Lieferung gut abzuwägen:
ZDFheute: Verläuft die ukrainische Gegenoffensive schleppend?
Maljar: Wenn man sich auf die Militärwissenschaft stützt, dann kämpfen wir mit feindlicher Überlegenheit, was Ausrüstung und Anzahl der Leute angeht. Unter solchen Bedingungen bewegt man sich nicht nach vorne. Aber wir bewegen uns und das widerspricht bereits der Militärwissenschaft. Da geht es nicht um die Anzahl der Kilometer, sondern um den Fakt selbst, dass wir uns bewegen.
"Es geht um jeden Meter Geländegewinn", sagt ZDF-Reporterin Brühl:
Und zweitens: Um sich zu bewegen, muss man das Verteidigungspotenzial des Gegners zerstören. Warum entwickelt sich alles mit so einer Geschwindigkeit? Weil beide Kriegsparteien stark sind. Und noch etwas ist wichtig: Für die ukrainische Armee ist der wichtigste Faktor die Rettung des Lebens unserer Soldaten. Und während wir unsere Handlungen planen, wird das bei uns mit beachtet.
Wenn Russen vorstoßen, schicken sie ihre Leute regelrecht in die Vernichtung. Wir planen unsere Operationen auf andere Art und Weise. Wir vermeiden Frontalzusammenstöße, um das Leben unserer Leute zu retten. Und das beeinflusst auch die Schnelllebigkeit.
ZDFheute: Ukrainische Soldaten sollen die zweite Verteidigungslinie südlich von Saporischschja erreicht haben. Gibt das der Ukraine Hoffnung?
Maljar: Im Süden haben unsere Streitkräfte an einigen Orten die erste Verteidigungslinie durchbrochen. Und jetzt befinden sie sich an der Zwischenlinie vor der zweiten. Wodurch ist diese Zwischenlinie charakterisiert? Sie war total vermint und unsere Streitkräfte werden jetzt durch Befestigungsanlagen aus Beton gehindert. Um weiter gehen zu können, müssen wir solche Schwierigkeiten überwinden. Das beeinflusst auch die Schnelligkeit.
Russland vermint ganze Landstriche und versucht so die ukrainische Offensive zu stoppen:
ZDFheute: An der Front im Osten und im Nordosten rücken die Russen offenbar vor. In Kupjansk gibt es einen Evakuierungsbefehl. Wie groß ist die Gefahr dieser Vorstöße?
Maljar: Die Evakuierung ist darauf ausgerichtet, dass Kinder gerettet werden. Unsere Aufgabe besteht darin, Maßnahmen im Voraus zu ergreifen, auch wenn es keine wirkliche Gefahr gibt. Aber es gibt Kämpfe. Die Kinder sollen in Sicherheit gebracht werden. Russen greifen aktiv Richtung Kupjansk an, und das einige Tage hintereinander, und sie haben da zwei Ziele.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.
Update
Sie wollen unsere Truppen von der Offensive Richtung Bachmut ablenken, damit wir unsere Soldaten auf andere Richtungen umlenken, um uns dort zu verteidigen. Ihre zweite Aufgabe Richtung Kupjansk besteht darin, die verlorenen Territorien in der Region Charkiw zurückzugewinnen. Die Territorien, die sie verloren haben, als wir die im Herbst befreit haben. Jetzt wird hart gekämpft, und es kommt manchmal vor, dass die gleichen Positionen mehrmals pro Tag von verschiedenen Parteien kontrolliert werden.
Bei solcher Intensität der Kämpfe werden Kinder evakuiert, wo die Stadtverwaltung es für richtig hält.
ZDFheute: Auf beiden Seiten gibt es hohe Verluste. Gleichzeitig gibt es den Zehn-Punkte-Friedensplan von Präsident Selenskyj. Wie passt beides zusammen?
Maljar: Es ist unmöglich, dass es einen Krieg ohne Verluste gibt. Leider. Und es gibt keine Technik, die man nicht vernichten kann. So konfrontiert der Krieg mit Verlusten, sowohl was Menschen als auch die Technik angeht. Von uns werden Verluste nicht danach charakterisiert, ob sie hoch oder niedrig sind. Weil für uns das Leben jedes einzelnen Soldaten und Zivilisten ein hoher Verlust ist.
Selenskyj beharrt auf die Befreiung der Krim:
Aber unsere Verluste sind bedeutend niedriger als bei Russen. Weil das bei uns beachtet wird, wenn die Einsätze geplant werden. Die Schlüsselforderung der Ukraine an den Aggressor ist die Befreiung aller unserer Territorien. Die acht Kriegsjahre vor der großen Invasion 2014 bis 2022 haben gezeigt, dass die Verhandlungen mit der russischen Föderation schlicht zum Stillstand gekommen sind. Welche Instrumente könnten wir alle zusammen finden, um diese Schande des 21. Jahrhunderts zu stoppen?
Und wir müssen jetzt alle zusammen diese Instrumente finden. Denn das ist nicht einfach der Krieg, der zwischen Russland und der Ukraine läuft, das ist der Krieg zwischen zwei Zivilisationen. Eine Seite ist die Zivilisation und die andere ist die Barbarei. Und die große Frage ist, ob Zivilisation die Barbarei stoppen kann.