Mutmaßliche Kriegsverbrechen: Droht Netanjahu ein Haftbefehl?
Mutmaßliche Kriegsverbrechen:Droht Netanjahu ein Haftbefehl?
von Jan Schneider
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Medienberichten zufolge fürchtet Israels Ministerpräsident einen Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in Gaza. Was steckt dahinter?
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wehrt sich massiv gegen die Vorwürfe des IStGH.
Quelle: dpa
Die Kritik an Israels Vorgehen im Kampf gegen die Hamas wird immer lauter. Die US-Regierung hat bei fünf israelischen Militäreinheiten bereits vor Beginn des Gaza-Kriegs am 7. Oktober "schwere Menschenrechtsverletzungen" festgestellt. Gleichzeitig gibt es erhebliche Zweifel im US-Außenministerium , ob aus den USA an Israel gelieferte Waffen rechtmäßig eingesetzt werden. Es bestehe der Verdacht, dass bei Militäraktionen der israelischen Armee das humanitäre Völkerrecht gebrochen werde.
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Konsequenzen könnte das auch für die Verantwortlichen an der Spitze des Staates haben. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu befürchtet Medienberichten zufolge, der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag könnte Haftbefehle gegen ihn und andere Israelis erlassen. Die Regierung gehe davon aus, dass Chefankläger Karim Khan noch in dieser Woche internationale Haftbefehle für Netanjahu, Verteidigungsminister Joav Galant sowie den Generalstabschef Herzi Halevi ausstellen könnte, berichteten israelische Medien am Sonntag.
Quelle: dpa
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist ein unabhängiger Gerichtshof mit Sitz in Den Haag, Niederlande. Seit 2003 hat er die Aufgabe, besonders schwere Straftaten wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression zu verfolgen. Der IStGH soll dazu beitragen, das humanitäre Völkerrecht und das internationale Völkerstrafrecht wirksamer durchzusetzen und gravierende Lücken bei der Strafverfolgung zu schließen.
Der Gerichtshof wird nur dann tätig, wenn die nationalen Strafverfolgungsbehörden nicht willens oder nicht in der Lage sind, entsprechende Verbrechen zu verfolgen. Einige Staaten äußern Bedenken hinsichtlich möglicher Eingriffe in ihre eigene staatliche Souveränität. Die USA, Russland und China erkennen die Legitimität des Gerichtshofs nicht an. Auch Israel erkennt das Gericht nicht an, die palästinensischen Gebiete sind aber Vertragsstaat. Daher darf der Ankläger auch ermitteln. Deutschland spricht sich für eine universelle Anerkennung des IStGH aus.
Der IStGH kann nur gegen Personen ermitteln, nicht gegen Staaten. Das ist auch der wesentliche Unterschied zum Internationalen Gerichtshof (IGH). Dieser hat zwar ebenfalls seinen Sitz im niederländischen Den Haag. Allerdings werden vor dem IGH Konflikte zwischen Staaten verhandelt. Darüber hinaus ist der IGH – im Gegensatz zum IStGH – Teil der Vereinten Nationen.
Warum ermittelt der IStGH?
Der IStGH ermittelt bereits seit 2021 wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen gegen die Hamas und Israel. Auch zu Gewalt israelischer Siedler im Westjordanland laufen Untersuchungen. In diesem Zusammenhang sollen nun auch die Entwicklungen seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag, an dem die Hamas etwa 1.200 Menschen in Israel tötete und rund 240 Geiseln verschleppte sowie die israelischen Reaktionen hierauf berücksichtigt werden.
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Die Angriffe waren Auslöser für die militärische Offensive Israels im Gazastreifen, bei der nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher mehr als 34.400 Menschen getötet worden sind. Diese Zahlen lassen sich allerdings nicht unabhängig überprüfen.
Im Februar dieses Jahres hatten Angehörige von Geiseln der Hamas den IStGH dazu aufgefordert, gegen die Anführer der Terrororganisation wegen Geiselnahme, sexueller Gewaltverbrechen, Folter und Mord zu ermitteln und Haftbefehle zu erlassen.
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Wie reagiert Netanjahu auf den möglichen Haftbefehl?
Netanjahu sei wegen möglicher Festnahmen, die eine dramatische Verschlechterung des internationalen Ansehens Israels bedeuten würden, äußerst besorgt, hieß es in den bisherigen Medienberichten.
Am Freitag schrieb Netanjahu bei X, vormals Twitter, Israel werde unter seiner Führung "niemals irgendeinen Versuch des Strafgerichtshofs akzeptieren, sein inhärentes Recht auf Selbstverteidigung zu untergraben".
Benjamin Netanjahu auf X
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Am selben Tag teilte Netanjahu auch einen Medienbericht, der die möglichen Haftbefehle als "Verleumdungstaktik" bezeichnet.
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Welche Folgen hätte ein Haftbefehl?
Sollte tatsächlich ein Haftbefehl gegen Netanjahu und weitere hochrangige Entscheidungsträger erlassen werden, hätte dies zur Folge, dass diese in ihrer Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt wären. Zwar kann der IStGH seine Haftbefehle nicht selbst durchsetzen. Allerdings wären die 124 Staaten, die die Statuten des Gerichtshofs unterzeichnet haben, zur Festnahme und Auslieferung nach Den Haag an den IStGH verpflichtet.
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Dass ein derartiger Haftbefehl politisch enorme Sprengkraft hätte, dürfte klar sein. Der Großteil der westlichen Unterstützer Israels - mit Ausnahme der USA - ist Mitglied des IStGH. Für diese stellt sich die brisante Frage, wie diese mit dem Haftbefehl umgehen würden. Einerseits dürfte es schwer vorstellbar sein, dass die Bundespolizei den israelischen Ministerpräsidenten an einem deutschen Flughafen festnehmen würde.
Andererseits ist Deutschland grundsätzlich an den Haftbefehl gebunden und setzt sich laut Webseite des Auswärtigen Amts ausdrücklich für einen möglichst effektiven, funktionsfähigen, unabhängigen und damit glaubwürdigen IStGH ein. Hierzu passt auch, dass Deutschland nach Japan der größte Beitragszahler für den IStGH ist.
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Gab es schon andere Anklagen gegen Staatschefs?
Netanjahu wäre nicht der erste Staatschef, gegen den ein Haftbefehl des IStGH verhängt wird. Im März 2022 - kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine - wurde ein Haftbefehl gegen den russischen Staatschef Wladimir Putin wegen Kriegsverbrechen ausgestellt. Ihm wurde vorgeworfen, persönlich für die Entführung von Kindern aus der Ukraine verantwortlich zu sein. Auch gegen die Kommissarin für Kinderrechte im Büro des russischen Präsidenten wurde damals Haftbefehl erlassen. Später folgten noch zwei weitere Haftbefehle gegen zwei hochrangige russische Offiziere.
Putin hat seit dem Erlass des Haftbefehls an mehreren internationalen Gipfeln nur per Videobotschaft oder Schalte teilgenommen, um einer Verhaftung im Ausland zu entgehen.
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