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Analyse
Bilanz zum G20-Gipfel in Rio:Das Zerbröseln der Weltordnung
von Elmar Theveßen
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Die Ergebnisse des G20-Gipfels sind bestenfalls gemischt: Der Ukraine-Krieg überschattete die Tagung, und in wichtigen Fragen gab es keine Einigkeit.
Ein Ergebnis des Gipfels in Brasilien ist die Gründung einer globalen Allianz gegen Armut und Hunger. Nur am Rande des Abschlussdokuments erwähnt wurde der Krieg in der Ukraine. 19.11.2024 | 1:39 min
Es war ein Gipfel der Appelle. "Dranbleiben und nicht aufgeben", sagte der Bundeskanzler bei seiner Pressekonferenz, "der Wind wird rauer". Damit meinte er nicht den Gegenwind, der ihm aus seiner eigenen Partei entgegenschlägt, sondern die wachsenden Schwierigkeiten, sich auf eine gemeinsame Linie zu verständigen - im Ukraine-Krieg, in der Nahostkrise, beim Klimaschutz. Zu letzterem flehte der amerikanische Präsident vor dem Plenum: "Ich dränge Sie, ich dränge Sie alle, mehr zu tun. Die Zukunft unserer Kinder, Urenkel und Ururenkel hängt davon ab". Aber Joe Biden wirkte dabei genauso machtlos wie seine europäischen Bündnispartner.
"Die Geschichte schaut zu", sagte er auch. Dabei ist es umgekehrt. Die Anführer der alten Weltordnung sehen ratlos einer Geschichte zu, "in der jeder nur auf sich selbst schaut, anstatt zu versuchen, ein Mindestmaß an Koordination bei der globalen Erwärmung, dem Handel und der internationalen Sicherheit herzustellen", so beschrieb es die "Estadao", eine der größten Tageszeitungen Brasiliens.
Der G20-Gipfel hat eine globale Allianz zur Bekämpfung von Hunger und Armut gegründet. Kanzler Scholz sprach zum Abschluss auch mit dem chinesischen Präsidenten Xi.19.11.2024 | 1:32 min
Alte Regeln zerfallen, neue kaum sichtbar
Dieser G20-Gipfel ist das Symptom für eine Welt, in der alte Regeln weniger gelten, neue kaum in Sicht sind. Es ist kein Zufall, dass die Diskussion um den Einsatz von US-Raketen in Russland alles andere hier zu überlagern scheint und dass die Abschlusserklärung in vielen Punkten so vage ausfällt. Keine klare Verurteilung des russischen Angriffskrieges, kein unmissverständliches Bekenntnis zur Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine, keine deutlichen Worte zum brutalen Terrorangriff der Hamas auf Israel, und keine konkreten Finanzhilfen im Kampf gegen den Klimawandel.
Beim G20-Gipfel in Rio treffen sich die Regierungschefs der 20 größten Industrie- und Schwellenländer. Sie wollen eine globale Allianz bilden, um Hunger und Armut zu bekämpfen.19.11.2024 | 2:29 min
Zum Vorschlag des Gastgebers Luiz Inacio Lula da Silva, eine Steuer von 2 Prozent für die reichsten Milliardäre dieser Welt zu erheben, die jährlich 250 Milliarden Dollar einbringen könnte, heißt es im Text: "Wir streben danach, eng zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass ultrareiche Personen effektiv besteuert werden." Die konkrete Prozentzahl fehlt. Außerdem weiß jeder Teilnehmer, dass so etwas mit dem neuen amerikanischen Präsidenten nicht zu machen ist.
Unter dem Vorbehalt von Trumps Segen
Auch Joe Bidens Zusage amerikanischer Milliardenhilfen für den Kampf gegen den Hunger in der Welt steht unter dem Vorbehalt des Segens von Donald Trump nach seinem Amtsantritt. Dabei ist Lula da Silvas Initiative gegen den Hunger das herausragende Ergebnis dieses Gipfels, denn so können Ideen und Projekte aus aller Welt, die bereits auf kleiner Basis funktionieren, für alle entdeckt, gefördert, auf regionale und globale Ebene übertragen werden - sofern die reichen Industrienationen entsprechende Gelder zur Verfügung stellen.
Aber "welchen Sinn hat es", fragt die Zeitung "Estadao", "in einer Zeit des wachsenden Nationalismus eine globale Allianz zur Bekämpfung von Hunger und Armut zu unterstützen, wenn Länder unilaterale oder bilaterale Lösungen suchen und sich mit regionalen Verbündeten oder solchen zusammenschließen, mit denen sie ideologisch enger verbunden sind?".
Schlechte Vorzeichen für multilaterale Lösungen
Diese Worte zeigen den Frust, der sich in aufstrebenden Ländern breitmacht, die wir gern als "globalen Süden" bezeichnen. Sie sehen, wie die starken Mächte, die USA, die EU, China, Russland und andere zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Es ist ein Zerbröseln der Ordnung, das Amerika unter seinem neuen Präsidenten noch befeuern wird. Wenn selbst die Führungsmacht unter der nationalistischen Flagge des "America First" vor allem Handelskriege anzettelt und auch nur ständig auf der Suche nach dem besten, bilateralen Deal ist, warum sollten andere Länder es anders machen?
In Brasilien beginnt der G20-Gipfel, bei dem es um den Kampf gegen Hunger und eine Energiewende gehen soll. Kanzler Scholz und US-Präsident Biden sind schon in Rio eingetroffen.18.11.2024 | 0:25 min
Die Zeichen von Rio verheißen nichts Gutes für den Multilateralismus, obwohl eigentlich nur dieser die globalen Probleme wirklich lösen könnte. Am Ende stand deshalb noch ein letzter Appell Lulas, als er die G20-Präsidentschaft an Südafrika weiterreichte. Nelson Mandela habe einmal gesagt: "Es ist leicht, abzureißen und zu zerstören. Die Helden sind die, die wieder aufbauen." Und er fügte hinzu: "Lassen Sie uns mit dem Aufbau einer gerechten Welt und eines nachhaltigen Planeten weitermachen." Mit anderen Worten: Dranbleiben und nicht aufgeben.
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