Vergewaltigungsprozess in Frankreich: Chirurg vor Gericht

Im Gerichtssaal im bretonischen Vannes tun sich jeden Tag neue Abgründe auf. Ein lautes Raunen ist zu hören, als die Richterin aus den Tagebüchern des Angeklagten zitiert. Darin schildert der langjährige Chirurg Joël Le Scouarnec, wie er Kinder unter Narkose missbraucht hat. Mit ruhiger, selbstsicherer Stimme gesteht er vor Gericht einen Großteil der Vorwürfe. Der 74-Jährige nennt seine einstigen Patientinnen und Patienten "Sexobjekte". Seit Ende Februar erfahren hunderte Opfer, welches Leid er ihnen angetan haben soll. Zum Tatzeitpunkt waren sie im Schnitt elf Jahre alt.

Francesca Satta vertritt mehrere Opfer in Vannes. Sie seien gekommen, um ihrem mutmaßlichen Täter ins Gesicht zu blicken:

Viele Opfer vor Ort möchten verstehen, wie Le Scouarnec sie ungehindert im Krankenhaus missbrauchen konnte. Aber nicht alle Opfer sind diesen schweren Weg angetreten. Auch, um nicht die Traumata nochmal im Gerichtssaal durchleben zu müssen. In Vannes muss sich der ehemalige Arzt in 299 Fällen von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen verantworten. Zwischen 1989 und 2014 hat der Chirurg in mehreren Krankenhäusern in Westfrankreich praktiziert. Ihm droht eine Gefängnisstrafe von 20 Jahren. Seit 2020 sitzt er bereits wegen sexuellen Missbrauchs in vier Fällen in Haft - darunter an zwei seiner Nichten. Die Ex-Frau soll früh über dessen pädokriminelle Energie Bescheid gewusst haben. Doch sie leitete den Behörden auch nach der Trennung keine Hinweise weiter.

Es ist nach dem weltweit beachteten Fall um Gisèle Pelicot der zweite große Missbrauchsprozess binnen weniger Monate, der Frankreich erschüttert. Und wieder scheinen Warnsignale missachtet worden zu sein, die auf ein ganzes Netzwerk an Sexualverbrechen hindeuteten. Schon 2005 war Le Scouarnec wegen Kinderpornographie zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Doch die Verurteilung war im Vorstrafenregister offenbar nicht sichtbar. Wenig später bekam der Chirurg eine neue Stelle an einem anderen Krankenhaus, im bretonischen Ort Quimperlé. Und auch ein Hinweis eines anderen Arztes trug keine Konsequenzen nach sich. Der regionale Ärzteverband soll trotz Kenntnis der Vorstrafe keine Maßnahmen getroffen haben.

In den kommenden Prozesswochen geht es um die Frage der Mitverantwortung. Welche Institutionen haben versagt? Wie viele Opfer hätten sie verhindern können, wenn sie Hinweisen gezielt nachgegangen wären? Die CIIVISE, eine unabhängige Kommission, die zu Pädokriminalität in Frankreich forscht, fordert ein Eingeständnis der beteiligten Institutionen. Man sehe eine lange pädokriminelle Laufbahn. Natürlich sei der Angeklagte der Hauptschuldige, so Potvin Favre, Mitglied der Untersuchungskommission zu Pädokriminalität.

Die Kommission geht von rund 160.000 Kindern jährlich aus, die in Frankreich Opfer sexualisierter Gewalt werden. Fast immer sind Männer die Täter. Zu oft schauen Erwachsene weg, zu oft werden Warnsignale nicht geprüft, sagt Potvin Favre. Sie habe gleichzeitig die Hoffnung, dass der Prozess ein Umdenken anstoße - damit Kinder in den Familien, aber auch in Schulen, Krankenhäusern und Sportvereinen besser geschützt werden.