Interview
Regierung vor dem Aus:Steuert Frankreich in die doppelte Krise?
von Luis Jachmann, Paris
|
Die Opposition plant den Sturz von Frankreichs Premierminister Barnier. Die politische Unsicherheit kommt zur Unzeit: Das Land steckt auch finanziell in der Krise.
Der französische Premierminister Michel Barnier hat die Verabschiedung des Sozialhaushalts mit dem Überleben seiner Regierung verknüpft. (Archivfoto)
Quelle: Reuters
3.220.000.000.000 Euro. Frankreichs Schuldenberg ist auf Rekordniveau und übersteigt sogar mit 110 Prozent die Wirtschaftsleistung des Landes (BIP). Zum Vergleich: Deutschland liegt bei etwas über 60 Prozent Staatsverschuldung.
Mit dem Ziel, das massive Defizit zu senken, war Michel Barnier im Spätsommer als Premierminister angetreten. Doch ob er noch die Gelegenheit dazu bekommt, ist mehr denn je fraglich: Seine Minderheitsregierung steht vor dem Aus.
Frankreichs Premierminister Barnier hat den Sozialhaushalt ohne Abstimmung durchs Parlament gebracht. Nun will die Opposition ihn mit einem Misstrauensvotum zu Fall bringen.02.12.2024 | 2:32 min
Sturz der Regierung droht
Ab Mittwoch droht der Sturz der Regierung durch die Oppositionsstimmen des linken Lagers und des rechtsnationalen Rassemblement National (RN): "Wir haben ein Misstrauensvotum eingereicht und werden diesem zustimmen. Diese Regierung verdient das Misstrauen", sagte Marine Le Pen, Fraktionssprecherin des RN.
Le Pen hat das Misstrauensvotum angekündigt, nachdem Regierungschef Barnier den Sozialhaushalt für 2025 per Sonderparagraph ohne Abstimmung im Parlament durchgedrückt hat. Le Pen sagte:
Frankreich steuert auf ein Misstrauensvotum und damit eine Regierungskrise zu. Die hätte auch große Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit der EU, so Frankreich-Kenner Jacob Ross.02.12.2024 | 4:39 min
Barnier machte Zugeständnisse an Rechtsnationale
Dabei war Barnier den Rechtsnationalen bis zuletzt entgegengekommen, hatte Sparmaßnahmen zurückgenommen. Die ursprüngliche Anhebung des Strompreises für 2025 hatte er abgesagt und war auch von seinem Plan abgewichen, die Kostenübernahme von Gesundheitsleistungen teilweise zu streichen.
Einsparungen, die das Staatsdefizit bekämpfen sollten. Einsparungen, die Barnier gestrichen hatte, um ein Misstrauensvotum von Le Pen abzuwenden. Doch die Rechtspopulistin forderte noch mehr Zugeständnisse: eine Anhebung der Rentenbezüge für Anfang 2025.
Le Pen wegen Veruntreuung von Geldern vor Gericht
Für den Premierminister ein Zugeständnis zu viel. Barnier sagte:
Er will sich nicht drängen lassen, doch das Schicksal seiner Minderheitsregierung steht und fällt mit Le Pen in dieser Woche. Vergangene Woche sah sie sich noch selbst in der Defensive: Vor Gericht muss sie sich zusammen mit dem RN wegen Veruntreuung von EU-Geldern verantworten. Im Frühjahr steht das Urteil an.
In Frankreich droht Ministerpräsident Michel Barnier der Sturz durch ein Misstrauensvotum im Parlament. "Wenn sich die extreme Linke und die Rechte zusammentun, können diese die Regierung stürzen“, so ZDF-Korrespondent Thomas Walde.02.12.2024 | 2:14 min
Abgeordnete aus dem Regierungslager werfen ihr vor, dass sie auch deshalb gegen Barnier politisch in die Offensive gehe und sich auch einem Misstrauensantrag aus dem linken Lager anschließen wolle. "Das RN ist der Königsmacher und fährt eine Strategie der Normalisierung. Barnier hat daran geglaubt und Le Pen unterschätzt. Er dachte, die Zugeständnisse könnten seine Regierung retten", sagt Politologin Claire Demesmay von Sciences Po Paris.
Frankreichs Bonität schrumpft
Die internationalen Finanzmärkte reagieren indes auf die Situation. Ratingagenturen stellten schon vor dem Misstrauensantrag eine verminderte Bonität Frankreichs in Aussicht. Und die Zinsen auf Staatsanleihen sind auf einem Rekordniveau. Die geringe Kreditwürdigkeit hängt auch mit der politischen Lage zusammen: Die Perspektive, dass Frankreich den eigenen Schuldenberg abbaut, ist schlecht. Ein Haushalt mit Einsparungen und mehr Einnahmen durch Steuererhöhungen ist in weite Ferne gerückt.
sagt der deutsche Ökonom Armin Steinbach von der Hochschule HEC Paris. Frankreich steuert in eine doppelte Krise. Sollte die Regierung mit den Stimmen aus dem linken und dem extrem rechten Lager stürzen, wäre Barnier der erste Regierungschef seit über 60 Jahren, der so zu Fall gebracht wird.
Im Wahlkampf beschwor Präsident Macron die Einheit gegen rechts – dann grenzte er die linken Wahlsieger aus. Der Zorn auf Frankreichs Straßen wächst. 09.10.2024 | 6:15 min
Präsident Emmanuel Macron müsste dann einen neuen Regierungschef ernennen. Und zwar schnell: die Stimmen, die Macrons Rücktritt fordern, würden lauter werden. Es ist ein politisches Szenario, das Konturen annimmt und die Finanzmärkte in Frankreich und Europa in Atem hält.
Luis Jachmann arbeitet im ZDF-Studio in Paris
Quelle: ZDF
Sie wollen stets auf dem Laufenden bleiben? Dann sind Sie bei unserem ZDFheute-WhatsApp-Channel genau richtig. Egal ob morgens zum Kaffee, mittags zum Lunch oder zum Feierabend - erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt auf Ihr Smartphone. Nehmen Sie teil an Umfragen oder lassen Sie sich durch unseren Mini-Podcast "Kurze Auszeit" inspirieren. Melden Sie sich hier ganz einfach für unseren WhatsApp-Channel an: ZDFheute-WhatsApp-Channel.
Thema
Mehr zu den Themen
FAQ
Regierung vor dem Aus:Wie geht es nun in Frankreich weiter?
mit Video
Ultimatum bis Montag:Haushaltsstreit: Frankreichs Regierung wankt
mit Video
RN-Politikerin vor Gericht:Worum es beim Le-Pen-Prozess geht
von Lukas Nickel