EU-Parlament: Sibylle Berg verdreht EU-Beschluss zur Ukraine

    Faktencheck

    Abgeordnete neben Sonneborn:Sibylle Berg verdreht EU-Beschluss zu Ukraine

    Autorenfoto Nils Metzger
    von Nils Metzger
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    Die Autorin und neue EU-Abgeordnete Sibylle Berg kritisiert die Ukraine-Unterstützung des EU-Parlaments. Ihre zugespitzten Vorwürfe stellen den EU-Beschluss missverständlich dar.

    Sibylle Berg, 2020
    Die Autorin Sibylle Berg ist für die kommenden fünf Jahre ins EU-Parlament eingezogen. (Archivbild)
    Quelle: dpa

    Am Dienstag kam erstmals das neue EU-Parlament in Straßburg zusammen. Als Abgeordnete neu dabei war die Autorin Sibylle Berg, die neben dem Satiriker Martin Sonneborn für Die Partei im Parlament sitzt.
    Am Freitag veröffentlichte Berg ein Video auf ihrem X-Kanal, worin sie heftige, polemische Kritik am Ergebnis einer der ersten Abstimmungen des neuen Parlaments übte: einem Votum für die Beibehaltung und Ausweitung der zivilen wie militärischen Unterstützung der Ukraine bei der Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg. Bergs Argumente sind jedoch häufig ungenau. Etwa sagte sie:

    Es ging um die Ausweitung des Krieges und die Verlängerung des Krieges.

    Sibylle Berg, EU-Abgeordnete, Die Partei

    Dass die EU- und Nato-Staaten mindestens 0,25 Prozent ihres BIP für die militärische Unterstützung der Ukraine aufwenden sollen, sei "fünf Mal mehr als es benötigt, um den gesamten Welthunger zu bekämpfen".
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    Über was genau hat das EU-Parlament abgestimmt?

    Bergs knapp zwei Minuten lange Äußerungen könnten so missverstanden werden, dass das EU-Parlament am Dienstag tatsächlich eine Entscheidung mit konkreten, unmittelbaren Folgen für EU-Bürger getroffen hätte - etwa, dass ab sofort 0,25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in das ukrainische Militär fließen würden.
    Tatsächlich handelt es sich bei dem Beschluss von Dienstag um einen sogenannten Entschließungsantrag des Parlaments. Darin formuliert das Parlament lediglich politische Überzeugungen oder Forderungen an andere EU-Institutionen wie die Kommission. Eine konkrete Wirkung wie ein Gesetz haben die beschlossenen zehn Punkte nicht automatisch. Mehrere der Punkte umfassen auch lediglich Bekräftigungen, vergangene Beschlüsse weiter zu verfolgen.
    Berg sagte über die Abgeordneten: "Die große Mehrheit dieser Menschen (…) hat dafür gestimmt, dass die Ukraine sich auf einem unumkehrbaren Weg in die Nato befindet." Ohne zu erwähnen, dass es sich hier lediglich um eine symbolische, politische Unterstützung für diesen möglichen Beitrittsprozess handelt - das EU-Parlament hat kein Mitspracherecht bei der Frage, wen die Nato aufnimmt. Das EU-Parlament kann den Mitgliedsstaaten mit so einem Entschließungsantrag auch keine Haushaltsmaßnahmen verpflichtend vorschreiben - ob die EU-Staaten tatsächlich 0,25 Prozent ihres BIP für Militärhilfen bereitstellen, eine Forderung der EVP-Fraktion vom April 2024, muss primär jede Regierung für sich entscheiden.
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    Verlängert der EU-Beschluss den Krieg?

    Auch Bergs Darstellung, das Parlament habe für eine "Verlängerung des Krieges" gestimmt, kann missverstanden werden. Konkret werden die Mitgliedstaaten im Text aufgefordert, die Unterstützung für die Ukraine "so lange wie nötig aufrechtzuerhalten und in jeder erforderlichen Form zu intensivieren".
    Wie lange eine solche Unterstützung nötig ist, liegt primär in den Händen des russischen Aggressors und dem Willen der Ukraine zum Widerstand. Das Parlament bekräftigte lediglich, die Ukraine bei dieser Verteidigung mit allem Nötigen unterstützen zu wollen. Davon, dass die Rüstungsproduktion auf ein Niveau der "Kriegswirtschaft" gehoben werden solle, wie Berg behauptet, ist im Dokument keine Rede.
    Auch dass sich das EU-Parlament damit für einen "allumfassenden Krieg" ausgesprochen habe, wie Berg es formuliert, hat keine Grundlage. Was der EU-Beschluss fordert, ist ein Ende der Beschränkungen für westlich gelieferte Waffensysteme im Einsatz "gegen militärische Ziele im Hoheitsgebiet Russlands". Eine solche Freigabe wäre vom völkerrechtlich verbrieften Recht auf Selbstverteidigung gedeckt und würde einen politisch bedingten militärischen Nachteil der Ukraine ausräumen.
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    Was kostet ein russischer Sieg in der Ukraine?

    Die Kosten des Ukraine-Kriegs sind immens. Die dafür nötigen Milliarden stellen viele EU-Staaten vor große Haushaltsprobleme, auch Deutschland. Eine Einstellung der Ukraine-Hilfen käme jedoch nicht zwingend günstiger. Die US-Sicherheits-Denkfabrik Institute for the Study of War schreibt etwa im April:

    Ein russischer Sieg in der Ukraine hätte desaströse Folgen für die Nato.

    Institute for the Study of War

    Im Falle eines dann vermutlich raschen Sieges Russlands müssten die EU-Staaten nochmals deutlich mehr Geld in Sicherheit und Verteidigung investieren, um Russland im Baltikum und an anderen Teilen der Nato-Ostflanke abzuschrecken. Millionen zusätzliche ukrainische Flüchtlinge müssten womöglich dauerhaft in der EU aufgenommen werden.
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    Wie viel Geld braucht es gegen den Welthunger?

    Bei der Schätzung, wie teuer die Beseitigung von Hunger weltweit ist, kommen internationale Organisationen seit Jahrzehnten zu sehr unterschiedlichen Zahlen. Sibylle Berg führt in ihrer Rechnung jährliche Kosten von rund 25 Milliarden Euro für die erfolgreiche Bekämpfung des Welthungers an.
    Das Welternährungsprogramm nannte 2021 rund 40 Milliarden US-Dollar. Eine frühere UN-Erhebung kam hingegen auf jährliche Kosten von 267 Milliarden US-Dollar, wenn man nicht nur unmittelbare Lebensmittel- und Verteilkosten, sondern auch Sozial- und Infrastrukturmaßnahmen einbezieht, um die Versorgung sicherzustellen.
    Ein zentraler Auslöser von Hunger sind Kriege, Konflikte und politische wie wirtschaftliche Benachteiligung weltweit. Russland und seine Verbündeten tragen in vielen Ländern zur Destabilisierung der Sicherheitslage bei. Und der Welthungerindex der Welthungerhilfe zeigt, dass viele Hungernde in Staaten leben, in denen von Russland und Iran unterstützte Militärs, Milizen oder Terrorgruppen aktiv sind. Die Lösung des Hunger-Problems ist also auch unmittelbar mit der Sicherheitslage in vielen Ländern verknüpft.

    Verteidigung ohne US-Hilfen?
    :Blinken: Ukraine auf Trump-Sieg eingestellt

    Die Zukunft der Ukraine-Hilfen unter einem möglichen Präsidenten Trump ist mehr als unklar. US-Außenminister Blinken skizziert, wie es für Kiew ohne US-Unterstützung weiterginge.
    Antony Blinken spricht am 17.07.2024 vor einem Treffen mit Mexikos Außenministerin Alicia Barcena im Treaty Room des State Department in Washington, DC, zur Presse.

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