Interview
Diktatur in El Salvador:"Ausnahmezustand ist Waffe" gegen Kritiker
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Claudia Ortiz ist in El Salvador die einzig wirkliche Oppositionspolitikerin im Parlament. Dominiert wird das Land vom populären Präsident Bukele, seiner Familie und seiner Partei.
„Wahlen, jajaja“ - steht auf dieser Häuserwand in San Salvador.
Quelle: Tobias Käufer
Bei den letzten Präsidentschaftswahlen in El Salvador holte Präsident Nayob Bukele rund 83 Prozent der Stimmen, seine Partei 57 der 60 Parlamentssitze. Die Wiederwahl Bukeles wird von einigen NGOs aber als verfassungswidrig eingestuft, weil die salvadorianische Verfassung nur eine Amtszeit vorsieht. Nach personellen Änderungen im Obersten Gerichtshof machte die höchste juristische Instanz im Land allerdings den Weg für eine erneute Kandidatur Bukeles frei.
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ZDfheute: Wie ist es, eine Opposition zu sein, die praktisch nur aus einer Person besteht?
Claudia Ortiz: "Das bedeutet, die Stimme vieler Menschen zu sein, die keine andere Möglichkeit haben, ihre Rechte zu verteidigen. In einem Parlament, in dem die absolute Mehrheit der Regierungspartei gehört und in dem Entscheidungen ohne Dialog, ohne Debatte, oft im Schnellverfahren, also ohne einen Ausschuss des Parlaments zu konsultieren, getroffen werden, besteht unsere Aufgabe im Parlament darin, die Stimme für alle Bedürfnisse, für alle Menschenrechtsverletzungen und auch für die Vorschläge, die die Bevölkerung selbst hat, die aber ignoriert werden, zu sein."
Oppositionspolitikerin Claudia Ortiz.
Quelle: Tobias Käufer
ZDFheute: Und wie sieht das im parlamentarischen Alltag aus?
Claudia Ortiz: "Wir erleben institutionelle Gewalt, Diskriminierung. Informationen, die für die Bürger und für alle Abgeordneten öffentlich sein sollten, werden uns vorenthalten."
ZDFheute: Präsident Nayib Bukele hat mehr als 80.000 mutmaßliche Gangmitglieder der Mara-Banden verhaften lassen und damit enorm an Popularität gewonnen. Die Sicherheitslage hat sich deutlich verbessert. Wie sehen Sie diese Sicherheitspolitik?
Claudia Ortiz: "Es ist eine Tatsache, dass es ein Gefühl von mehr Ruhe, von mehr Sicherheit oder - um es anders auszudrücken - von weniger Kriminalität durch Banden auf den Straßen, in den Gemeinden gibt. Wir möchten, dass dies auch dauerhaft bleibt, ohne allerdings die Menschenrechte der Bevölkerung zu verletzen. Ohne dass es zu versteckten oder unter dem Tisch getroffenen Vereinbarungen mit den Führern des organisierten Verbrechens kommt."
"Der aktuelle Ausnahmezustand ist die Aussetzung von verfassungsmäßigen Rechten aller Salvadorianer. Und in dieser Situation befinden wir uns nun schon seit mehr als zwei Jahren. Jetzt muss es möglich sein, zu einer Situation zurückzukehren, in der die Rechtsstaatlichkeit wieder respektiert wird. Aber was wir in der Praxis beobachten ist, dass der Ausnahmezustand eine Waffe ist, die eingesetzt wird, um regierungskritische Menschen zu terrorisieren und zu kriminalisieren."
Im Anschluss an ein gewalttätiges Wochenende im März 2022 mit 62 Toten an einem Tag verhängte El Salvadors Präsident Nayib Bukele (43) den Ausnahmezustand, der bis heute vom Parlament immer wieder verlängert wird. Nach offiziellen Angaben, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, wurden seitdem 82.000 mutmaßliche Mitglieder der Mara-Banden festgenommen - gefürchtete Banden, die ein kriminelles und brutal agierendes Netzwerk mit Schutzgelderpressungen, Zwangsprostitution und Drogenhandel betreiben. Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass sich unter den Verhafteten auch tausende Unschuldige befinden, die oft monatelang ohne Kontakt zur Außenwelt oder zu Anwälten festgehalten werden. Die Regierung räumt ein, dass auch unschuldige Zivilisten verhaftet wurden und spricht von inzwischen 8.000 freigelassenen Menschen. Die Mordrate ging durch die radikale Maßnahme drastisch zurück. Inzwischen gilt das einst gefährlichste Land Lateinamerikas als eines der sichersten Länder der Region.
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ZDfheute: Aber gibt es Zahlen? Kennen Sie eine Anzahl von Umweltschützern, Menschenrechtsverteidigern, sozialen Aktivisten, die während dieses Ausnahmezustands bereits inhaftiert wurden?
Claudia Ortiz: "Es ist dokumentiert, dass Gewerkschaftsführer und führende Umweltschützer verhaftet wurden. Auch die Verkäufer im Zentrum von San Salvador, die vertrieben wurden, weil man dabei ist, das Zentrum umzugestalten, wurden mit der Drohung, dass sie wegen des Ausnahmezustands ins Gefängnis kommen würden, wenn sie nicht gehen, von ihren Standorten vertrieben."
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ZDFheute: Was tun Sie, wenn Sie Bitten aus der Bevölkerung erhalten?
Claudia Ortiz: "Das Einzige, was wir wirklich oft tun können, ist, die Probleme sichtbar zu machen. Wir erhalten zum Beispiel Anfragen von Gemeinden, die von allen staatlichen Institutionen vergessen wurden. Wir haben auch Anfragen oder Beschwerden von vielen Gewerkschaften, die verfolgt, kriminalisiert und eingeschüchtert werden, deren Vereinigungsfreiheit beschnitten wird, deren Gewerkschaftsführer bedroht oder sogar entlassen werden. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die Kinder oder unschuldige Verwandte haben, die inhaftiert sind, die fragen, ob ihre Verwandten überhaupt noch leben oder wie der rechtliche Status dieser Menschen ist, weil ihnen das niemand sagt. Da versuchen wir zu helfen."
Das Interview führte Tobias Käufer in San Salvador.
Quelle: ZDF
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