Super-Wahlsonntag: Was Wahlen in Belgien besonders macht
Wahlen in Belgien:Es ist Wahl, und keiner blickt durch
von Amelie Hamester, Brüssel
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Belgien wählt diesen Sonntag gleich dreifach: regional, national und europäisch. Dabei hat das Nachbarland Deutschlands einige Besonderheiten, wenn es um’s Wählen geht.
Am 09. Juni 2024 steht in Belgien ein Superwahlsonntag an. Neben der Europawahl finden auch nationale und regionale Wahlen statt.
Quelle: IMAGO / Pond5 Images / Imagebroker
In Belgien wird an diesem Wochenende nicht nur die Europawahl gewählt, sondern auch national und regional. In Brüssels Stadtteil Schaerbeek lächeln deshalb Kandidaten aus fast jedem Geschäft - ihre Fotos hängen in den Schaufenstern. "Natürlich hänge ich gerne Wahlplakate auf. Das fördert unsere Demokratie", sagt Arbi Mesrouf.
Der Schaufenster-Wahlkampf hat seinen Grund: Wahlwerbung an Laternen ist verboten und auf wenige offizielle Plakatwände beschränkt. Es ist nur eine der Wahl-Besonderheiten, die Belgien von anderen europäischen Staaten unterscheidet.
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Wahlkampf im Reality-TV
Wer Belgiens Wahlkampf beobachtet, gewinnt den Eindruck: Es geht mehr um die Person als ums Programm. Zu sehen, auch im Fernsehen: in Talk-Shows sowieso, aber auch in kuriosen Reality-Formaten. Die Sender stecken Kandidaten in Pyjamas oder setzen sie in die Achterbahn. Im April verbrachten Parteispitzen gleich ein ganzes Wochenende in einem Märchenschloss - um die Wähler von sich zu überzeugen.
In Belgien ist Wahlwerbung auf wenige offizielle Plakatwände beschränkt.
Quelle: ZDF
Wahlpflicht in Belgien - auf dem Papier
In Belgien ist Wählen Pflicht. Wer seiner Bürgerpflicht nicht nachkommt, muss ein Bußgeld von bis zu 80 Euro fürchten. Die Wahlpflicht steht allerdings nur auf dem Papier, bei den letzten beiden Wahlen verhängte der Staat keine Strafen. Trotzdem lag die Beteiligung bei der letzten Dreifach-Wahl 2019 bei 88 Prozent, eine der höchsten der Welt. Wer keinen Kandidaten mag, kann "weiß" wählen, also einen Zettel ohne Kreuz in die Urne werfen.
Sprachgemeinschaften in Belgien sorgen für doppeltes System
Falls einem die Wahlentscheidung nicht leicht fällt, könnte das wohl auch am Parteiensystem liegen, das in Belgien ziemlich komplex ist. Belgien hat zwei große Sprachgemeinschaften, das niederländischsprachige Flandern und das französischsprachige Wallonien. Das heißt auch: Zwei Öffentlichkeiten, zwei Parteisysteme, also jeweils wallonische und flämische Parteien.
09. Juni: Superwahl-Sonntag in Belgien
… wurde das Europäische Parlament neu gewählt. Die Europawahl 2024 fand europaweit vom 06. bis 09. Juni statt.
… wurde die Abgeordnetenkammer gewählt, die zusammen mit dem Senat das föderale Parlament bildet. Auch hier ist das Parteiensystem zweigeteilt: Wer in Flandern lebt, wählt niederländischsprachige Parteien, in der Wallonie französischsprachige. In der zweisprachigen Region Brüssel können sich Wähler selbst entscheiden.
… wählten die Belgier die Parlamente von Flandern, der Wallonie, der Region Brüssel-Hauptstadt und der kleinen deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Mitglieder der regionalen Parlamente bilden auch den Senat, den zweiten Teil des belgischen Parlaments.
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Ein zersplittertes Parteiensystem und Wahlen auf gleich drei Ebenen: Zwei Wochen vor den Wahlen war fast ein Drittel der Wähler noch unentschlossen, laut einer Umfrage des Instituts IPSOS. "Ich weiß nicht, wie ich wählen soll", sagt auch Aline Orell, eine Kellnerin aus Brüssel. Mit Blick auf die Schaufenster-Plakate sagt sie: "Diese Stadt hängt voll mit leeren Versprechen." Auch in Belgien scheinen Parteien an den Rändern zu profitieren.
Die Folgen zeigen sich besonders in Flandern: Die separatistische N-VA gehört dort bereits zum Establishment. Ein Viertel wird laut einer Umfrage den migrationsfeindlichen Vlaams Belang wählen.
In Wallonien schöpft dagegen die linksextreme PTB die Proteststimmen ab. Rechtsextreme Parteien haben dort kaum messbaren Erfolg - noch so eine belgische Besonderheit. Es könnte schwer werden, eine nationale Regierung zu bilden, die die unterschiedlichen Regionen repräsentiert.
An diesem Sonntag wird ein neues EU-Parlaments gewählt – von 720 Sitzen entfallen 96 auf Deutschland. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat in Hannover ihre Stimme abgegeben.09.06.2024 | 0:28 min
Regierung in Belgien: Spitzname "Vivaldi"
Belgiens föderale Regierung besteht aus sieben Parteien - mit vier politischen Strömungen. "Vivaldi" lautet ihr Spitzname - in Anlehnung an die "Vier Jahreszeiten" des italienischen Komponisten. Trotzdem hat sie in Umfragen keine Mehrheit.
Von insgesamt 150 Sitzen der Abgeordnetenkammer könnten bei der Parlamentswahl 50 von den politischen Rändern besetzt werden. Und die Koalitionsverhandlungen könnten dann wieder lange dauern. Der Rekord liegt bei 541 Tagen.
Die Wahlkampfthemen unterscheiden sich in den einzelnen EU-Ländern. Doch eins gilt für alle: Bei dieser Wahl geht es um die Sicherheit und Zukunft Europas. Das macht viele nervös.
von Isabelle Schaefers
mit Video
Änderungen in der Verfassung in Belgien
Die nächste Regierung in Belgien könnte jedenfalls viel verändern, auch Grundlegendes. Denn: Belgiens Verfassung ist nicht in Stein gemeißelt. Das zeigen die Staatsreformen. Sie haben die Struktur des Landes in den letzten fünfzig Jahren sechsmal geändert. Auch die "Vivaldi"-Koalition hat festgelegt, welche Artikel die nächste Regierung kernsanieren darf.
Das könnte Grundlegendes verändern. Flämische Parteien könnten auf mehr Konföderalismus und unabhängigere Regionen drängen. Andere Parteien hingegen fordern das Gegenteil: Eine Stärkung der föderalen Regierung. Auch wenn sich die Lager in diesen Punkten kaum einig werden - in einer Sache stimmen sie überein: Belgien muss einfacher werden.
Die Ergebnisse der EU-Wahl zeigen: In Deutschland gewinnt die Union, die AfD ist zweitstärkste Kraft. In Frankreich und Italien liegen rechte Parteien vorn. Alles zur Wahl im Blog.