Krieg gegen Russland: Wie die Ukraine um neue Soldaten ringt
Analyse
Personalmangel und Erschöpfung:Wie die Ukraine um neue Soldaten ringt
von Christian Mölling und András Rácz
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Die Freiwilligkeit ist weitgehend verschwunden, Müdigkeit und Erschöpfung machen sich breit: Die ukrainische Armee ringt um Soldaten - wie sie das Problem in den Griff bekommt.
Um dem Personalmangel entgegenzuwirken, haben die ukrainischen Streitkräfte damit begonnen, so genannte Rekrutierungszentren zu eröffnen (Archivfoto).
Quelle: AFP
Die militärischen Verluste der Ukraine sind eines der bestgehüteten Geheimnisse im Krieg. Selbst die bestinformierten Experten sagen, dass die Zahlen niedriger sind als die der Russen, aber dennoch schlimm genug.
Die Verluste sind nur ein Teil des zunehmend schwerwiegenden Personalproblems der Ukraine. Der andere Teil, der alle Fronteinheiten betrifft, ist die Ermüdung. Bei Einsätzen der Nato werden westliche Soldaten alle drei bis sechs Monate ausgewechselt und nach einem Jahr in leichtere Positionen versetzt.
Freiwilligenreservoir erschöpft
In der Ukraine fehlt es jedoch an den für eine ordnungsgemäße Rotation erforderlichen Kräften, so dass es mehrere ukrainische Einheiten gibt, die seit mehr als zwei Jahren nicht mehr richtig ausgeruht und rekonstituiert wurden. Müdigkeit und Erschöpfung haben auf lange Sicht verheerende Auswirkungen, sowohl physisch als auch psychisch - und führen zu weiteren Kampfverlusten.
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Für die ukrainischen Streitkräfte ist es daher von entscheidender Bedeutung, die notwendige Versorgung mit Personal sicherzustellen. Die Freiwilligenarbeit, die zu Beginn der groß angelegten Invasion sowohl die Welt als auch die Ukrainer selbst beeindruckt hat, ist weitgehend verschwunden.
Während die Ukraine vor der Gegenoffensive im Sommer 2023 noch acht neue Sturmbrigaden aufstellen konnte, die zu einem erheblichen Teil aus Freiwilligen bestanden, ist dies inzwischen nicht mehr der Fall. Wer vorhatte, sich freiwillig dem Kampf anzuschließen, hat dies bereits getan.
Quelle: DGAP
... leitet das Programm "Europas Zukunft" für die Bertelsmann Stiftung in Berlin. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.
Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.
Eröffnung der Rekrutierungszentren
Die ukrainischen Streitkräfte haben damit begonnen, sogenannte Rekrutierungszentren zu eröffnen, wobei sie den Begriff Rekrutierung im geschäftlichen Sinne verwenden. In diesen Zentren können sich Männer und Frauen für offene Stellen bei den Streitkräften bewerben, und zwar nicht nur für kampfbezogene Stellen.
Es besteht auch ein großer Bedarf an IT-Spezialisten, Ärzten, Krankenschwestern und Logistikern. Außerdem kann jemand, der freiwillig einen solchen Job in der Armee annimmt, danach nicht mehr mobilisiert werden, da die Person bereits in der Armee ist.
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Die Rekrutierungszentren sind in der Lage, einen Teil der freien Stellen zu besetzen, aber nicht alle und nicht mit einem vorhersehbaren Tempo - und vor allem nicht bei den Kampfeinheiten. Die Rekrutierung allein ist eindeutig nicht ausreichend.
Änderung des Mobilisierungsgesetzes
Daher musste die Ukraine ihr Mobilisierungsgesetz ändern und den Kreis der dienstpflichtigen Männer erheblich erweitern. Die Senkung des Mindestalters von 27 auf 25 Jahre war nur ein Teil der durchgeführten Maßnahmen. Viel wichtiger ist, dass die Zahl und die Art der Ausnahmen deutlich gesenkt wurden.
Während ursprünglich einige Beamte über die Möglichkeit nachdachten, auch Frauen zu mobilisieren, wurde dies in der endgültigen Fassung des Gesetzes gestrichen. Die Umsetzung ist natürlich nach wie vor problematisch, aber mit der Zeit wird sich die Effizienz des ukrainischen Mobilisierungssystems sicherlich verbessern.
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Noch Millionen Männer im wehrfähigen Alter
Trotz Auswanderung und der Kampfverluste gibt es in der Ukraine immer noch Millionen Männer im wehrfähigen Alter. Und entgegen den anfänglichen Äußerungen von Selenskyj wird die Ukraine nicht eine halbe Million Männer auf einmal mobilisieren müssen. Es würde ohnehin keinen Sinn machen, da die Ukraine nicht so viele Männer auf einmal ausbilden könnte.
Derzeit ist geplant, in den kommenden Monaten, das heißt bis zum Ende des Sommers, etwa 13-14 neue Brigaden aufzustellen. Allerdings muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Ukraine mit der neuen Mobilisierung nicht sofort 14 neue Brigaden erhalten wird.
Was das Personal angeht, dürfte dies kein Problem sein. Komplizierter wird es sein, diese neuen Soldaten mit der notwendigen Ausbildung und Ausrüstung auszustatten. Westliche Hilfe kann - und soll - in beiden Fällen eine entscheidende Rolle spielen.
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Ausbildung für neue Brigaden zentral
Neu mobilisierte Soldaten müssen zunächst eine Grundausbildung absolvieren, danach eine Spezialausbildung (entsprechend der für sie vorgesehenen Waffengattung, wie Artillerie, Ingenieurwesen, Schützen usw.), und erst danach können sie den Einheiten zugewiesen werden, in denen sie ihren Kampfdienst leisten werden.
Das ist natürlich völlig korrekt und professionell: Unausgebildete Soldaten in den Kampf zu schicken, führt unweigerlich zu massiven Verlusten (wie Russland nach seiner Mobilisierung im Herbst 2022 erfahren hat), und das will die Ukraine vermeiden.
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Daher werden auch Rekrutierung und Mobilisierung zusammen nicht in der Lage sein, das Personalproblem der Ukraine sofort zu lösen. Der Mangel an ausgebildeten Soldaten wird die nächsten Monate mit Sicherheit prägen. Eine größere Zahl ausgebildeter neuer Soldaten wird wahrscheinlich erst gegen Ende des Sommers zur Verfügung stehen, nicht vorher.
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