9/11: Helden der größten Bootsevakuierung der US-Geschichte

    11. September 2001:Die größte Bootsevakuierung der Geschichte

    von Nina Feldmann, New York City
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    Am 11. September 2001 herrscht in New York City Chaos: Straßen sind überfüllt, Brücken gesperrt, U-Bahnen fahren nicht. Für viele Menschen der einzige Weg zu entkommen: das Wasser.

    Rettungsboot auf dem Hudson River, im Hintergrund Manhattan mit Staubwolken um das World Trade Center.
    Am Tag der Anschläge auf das World Trade Center sind große Teile New Yorks lahmgelegt. Einer der wenigen Auswege war die Rettung über den Hudson River.
    Quelle: U.S. COAST GUARD

    Am Morgen des 11. September 2001 fährt Kapitän Rick Thornton seine übliche Route auf dem Hudson River. Er steuert eine Pendlerfähre, die viele täglich nach Manhattan bringt - hauptsächlich Berufspendler, die von New Jersey zur Arbeit in die Stadt fahren. Eine Überfahrt dauert zehn Minuten. Sobald er am Hafen anlegt, steigen Menschen aus, andere kommen an Bord, dann wendet er das Boot für die nächste Fahrt - Routine.

    "Wir wußten, es ist ein koordinierter Anschlag"

    Um 8:46 Uhr wird seine Routine unterbrochen: Terroristen steuern ein Passagierflugzeug der American Airlines in den Nordturm des World Trade Centers. Thornton und sein Team halten es zunächst für einen tragischen Unfall. Wenige Minuten später, gerade als seine Fähre von Manhattan ablegt, ändert sich das schlagartig: "Als um 9:03 das zweite Flugzeug in den Südturm einschlug, wussten wir, dass es ein koordinierter Angriff auf New York City war."

    Am 11. September 2001 kam es zu verheerenden Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington D.C. Terroristen der Al-Qaida entführten vier Passagierflugzeuge. Zwei flogen in die Zwillingstürme des World Trade Centers, ein drittes traf das Pentagon. Das vierte stürzte nach dem Eingreifen der Passagiere in Pennsylvania ab, bevor es das Ziel der Terroristen erreichen konnte. Fast 3.000 Menschen verloren an diesem Tag ihr Leben und die Welt veränderte sich nachhaltig. Der anschließende "Krieg gegen den Terror" der USA führte zu zahlreichen Konflikten und Kriegen in Regionen wie dem Nahen Osten und Zentralasien, insbesondere in Afghanistan und dem Irak.

    Thornton und sein Team wollen helfen. Sie nehmen die Fähre aus dem regulären Betrieb, und steuern auf Downtown Manhattan zu.

    Wir wussten nicht, was genau passiert ist und wer dafür verantwortlich war. Unser grundlegendes Gefühl in dem Moment war einfach: Wir müssen dort runter und helfen.

    Kapitän Rick Thornton, NY Waterway

    Rettungsboote auf dem Hudson River, im Hintergrund Manhattan mit Staubwolken um das World Trade Center.
    Kapitäne der Pendlerfähren wurden unverhofft zu Rettern: Bei den Anschlägen vom 11. September evakuierten sie tausende New Yorker.

    9/11: Tausende flohen ans Ufer von Manhatten

    Sie gehören zu den ersten Booten, die Downtown Manhattan erreichen. Als sie ankommen, sehen sie Tausende von Menschen entlang der gesamten Uferpromenade. "Wir hatten nur ein Ziel: die Menschen aufs Boot zu holen, so viele wie möglich, so schnell wie möglich," sagt Thornton. Hunderte strömen an Bord, mehr als erlaubt - die Fähre ist für 399 Passagiere ausgelegt.
    Als um 9:58 der erste Zwillingsturm einstürzt, verschärfte sich die Lage. Das Boot umhüllt sich mit Staub, und die Menschen, die der Katastrophe entkommen müssen, werden immer mehr. Manche seiner Passagiere sind verletzt und bluten, andere haben den Großteil ihrer Kleidung auszogen, um Staub und Dreck loszuwerden. Die Lage ist chaotisch. Und trotzdem herrscht Stille auf dem Boot:

    Alle standen unter Schock, starrten Richtung Manhattan und konnten es nicht fassen. Niemand sprach, schrie oder weinte. Eine völlige Stille lag über dem ganzen Boot.

    Kapitän Rick Thornton, NY Waterway

    Trümmer des Terroranschlags in New York, 09. September 2001
    Über zwanzig Jahre ist der Anschlag am New Yorker World Trade Centre her, bei dem mehr als 3.000 Menschen starben, es persönliche Tragödien gab. Es war ein Tag, der alles veränderte - bis heute. 07.09.2021 | 14:48 min

    Über 150 Boote kommen zur Rettung

    Thornton pendelt mehrmals über den Hudson, nimmt so viel Menschen wie möglich an Bord, bringt sie zu den nächstgelegenen Häfen in New Jersey und fährt zurück in die dichte Staubwolke. Um 10:45 Uhr sendet die US-Küstenwache einen Notruf an alle Kapitäne in der Umgebung:

    Alle verfügbaren Boote, jeder, der bei der Evakuierung von Downtown Manhattan helfen kann, soll nach Governors Island kommen.

    Notruf der US-Küstenwache

    Es dauert nur wenige Minuten, bis auf Thorntons Radar dutzende rote Punkte auftauchen: Fähren, Schlauchboote, Schlepper, Yachten - Kapitäne verschiedener Schiffe folgen dem Notruf und steuern auf den Finanzdistrikt in Manhattan zu. Insgesamt helfen über 150 Boote, darunter viele Privatpersonen.
    Der 11. September wird damit zur größten Bootsevakuierung der Geschichte. Innerhalb von neun Stunden retten die Kapitäne Schätzungen zufolge 350.000 bis 500.000 Menschen aus dem Katastrophengebiet. Mehr, als bei der Evakuierung per Boot im Jahr 1940, die nach der Schlacht von Dünkirchen in mehreren Tagen erfolgte.

    Gerettete erinnert sich: "Das waren Helden"

    Unter den Geretteten ist Christina Stanton. Im Jahr 2001 lebt sie im Finanzdistrikt von Manhattan, nur wenige Blöcke vom World Trade Center entfernt. Von ihrem Balkon aus sieht sie, wie das zweite Flugzeug in den Südturm fliegt. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Hund flieht sie - barfuß und im Nachthemd. Draußen herrscht Chaos: Die Straßen sind überfüllt, U-Bahnen fahren nicht, Brücken und Tunnel sind gesperrt. Sie laufen in Richtung Ufer. Dort sieht sie, wie die ersten Menschen per Boot evakuiert werden.
    Mohammed Atta
    Am 11. September 2001 macht Mohammed el-Amir Atta ein vollbesetztes Passagierflugzeug zur fliegenden Waffe. Wie wird ein Hamburger Student zum Top-Terrorist und Massenmörder? 11.09.2022 | 12:50 min
    Für Stanton sind die Helfer auf dem Booten jene Helden des 11. Septembers, die zu oft übersehen werden. "Sie haben alles riskiert, sind immer wieder in ein gefährliches Gebiet gesteuert, um Menschen in Sicherheit zu bringen. Dieser Tag hat so viele Menschen zu Helden gemacht und mir gezeigt, dass es immer Menschen gibt, die helfen wollen.", sagt sie.

    Wir dachten, dass wir sterben werden. Als wir auf das Boot stiegen, war ich erleichtert.

    Christina Stanton, Gerettete

    Stilles Gedenken am Tag des Terroranschlags

    Kapitän Rick Thornton ist dankbar, dass er an diesem Tag einen Teil leisten konnte. Trotz des großen Leids zieht er auch Positives aus dem Schicksalstag:

    Wir haben das Schlechteste im Menschen gesehen, aber auch das Beste. Trotz all des Grauens brachte dieser Tag auch das Gute im Menschen zum Vorschein.

    Kapitän Rick Thornton, NY Waterway

    Heute steuert Kapitän Thornton noch immer seine Fähre zwischen Manhattan und New Jersey. Auch in diesem Jahr wird er zum Zeitpunkt der Anschläge sein Boot für eine Minute anhalten, um in stillem Gedenken den Opfern die Ehre zu erweisen.

    Notlandung auf Hudson River
    :Wie ein Fast-Unglück den USA Hoffnung brachte

    Vor 15 Jahren gelang Captain "Sully" Sullenberger eine erfolgreiche Notwasserung auf dem Hudson River. Das Ereignis prägte Social Media - und brachte Optimismus zurück in die USA.
    Susanne Lingemann, New York
    Ein Flugzeug schwimmt im Hudson River. Personen steigen durch die Notausgänge aus.
    mit Video

    Eine Person hält ein Smartphone in der Hand. Darauf ist der WhatsApp-Channel der ZDFheute zu sehen.
    Quelle: ZDF

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