Interview
Betroffene und Forschung:Seltene Krankheiten - die vergessenen Leiden
von Malin Ihlau
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Vier Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Seltenen Erkrankungen. Bis zu ihrer Diagnose erleben sie oftmals eine lange Leidenszeit. Und Therapien fehlen häufig.
Björn Burchelt nimmt Sohn Lucjan, der nicht mehr selbst laufen kann, 2022 einfach mit zum Marathonlauf.
Quelle: Björn Burchelt
In Deutschland leben rund vier Millionen Kinder und Erwachsene mit einer der etwa 8.000 Seltenen Erkrankungen. Eine Erkrankung gilt als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen das spezifische Krankheitsbild aufweisen. Für die Betroffenen und ihre Angehörigen heißt das: Sie müssen beständig gegen die Statistik und für mehr Therapiemöglichkeiten kämpfen. Denn das Geld für die Forschung ist oftmals rar.
Seltene Erkrankungen verändern Familienalltag
Lucjan ist 15 Jahre alt. Er hat eine seltene Krankheit: Muskeldystrophie Duchenne (DMD). Sie betrifft zu 99,9 Prozent Jungen. Der Genfehler liegt auf dem X-Chromosom. Durch den Gendefekt wird kein körpereigenes Dystrophin (Eiweiß) produziert. Das bedeutet, dass sämtliche Muskeln verkümmern. Die letzte schwindende Muskulatur ist die Atem- oder Herzmuskulatur.
Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 25 Jahren. Doch Familie Burchelt aus Hannover lässt sich durch diese Diagnose nicht unterkriegen. Beharrlich kämpfen sie und hoffen auf neue Therapieansätze.
- In der EU wird eine Krankheit als selten bezeichnet, wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind.
- Derzeit sind mehr als 6.000 verschiedene Krankheitsbilder dieser Art bekannt. Noch immer werden neue entdeckt.
- Etwa 80 Prozent dieser Erkrankungen sind genetisch bedingt und betreffen deshalb schon Kinder.
- In Deutschland leben schätzungsweise vier Millionen Menschen mit einer Seltenen Krankheit.
- Die Seltenheit der Krankheiten und das fehlende Wissen über Symptomatik, Diagnostik und Verlauf erschweren die Behandlung oft.
- 2009 empfahl der Rat der Europäischen Union die Einrichtung von Fachzentren zur besseren Versorgung.
- Seitdem sind in Deutschland 37 Zentren für Seltene Krankheiten aufgebaut worden. Meist sind sie an die örtliche Universitätsklinik angebunden.
- In den Zentren kümmern sich interdisziplinäre Teams um Menschen mit bekannten seltenen Krankheiten und um Menschen ohne Diagnose.
- Die Zentren sind untereinander und auch nach außen vielfach vernetzt, etwa mit Patientenorganisationen.
Lucjan kann seitdem er zwölf Jahre alt ist nicht mehr laufen. Letztes Jahr wurde seine Wirbelsäule versteift. Dass er nicht mehr gehen kann, schmerzt den Jungen sehr. Vater Björn Burchelt hat schon immer dafür gesorgt, dass Lucjan sich viel bewegt, und die Physiotherapien, die er bekommt, sind immer effektiv gewesen.
Es gibt lange Listen seltener Erkrankungen von A bis Z. Von vielen dieser Erkrankungen haben die meisten Menschen wohl noch nie etwas gehört. Es gibt aber auch seltene Erkrankungen, die etwas bekannter sind. Hier ein paar Beispiele:
- Asperger-Syndrom
- Creutzfeldt-Jakob-Syndrom
- Huntington-Krankheit
- Ménière-Krankheit
- Tourette-Syndrom
- Zystische Fibrose
Der lange Weg zur Diagnose
Weil Seltene Erkrankungen so selten sind, fällt es Haus- oder Fachärzten meist schwer, die richtige Diagnose zu stellen, oder die passende Behandlung bereitzustellen. Hier können Zentren für seltene Erkrankungen helfen. An einem Zentrum für Seltene Erkrankungen arbeiten Experten mit unterschiedlichen Fachkenntnissen zusammen. Die Zentren sind auf nationaler Ebene untereinander vernetzt und auch international in unterschiedlichen Netzwerken aktiv.
In Deutschland gibt es aktuell 36 Zentren für Seltene Erkrankungen. Bis auf zwei Ausnahmen betreuen sie Erwachsene, Kinder und Jugendliche aus dem gesamten Bundesgebiet. In der Universitätsstadt Tübingen wurde im Jahr 2010 bundesweit das erste Zentrum für seltene Erkrankungen (ZSE) gegründet. Hier werden jährlich 10.000 Patienten und Patientinnen ambulant und stationär versorgt.
"Du simulierst ja nur!" Diese Worte kennt auch Diana Seeber zur Genüge. Sie ist eine von etwa 3.000 Menschen in Deutschland, die mit Morbus Fabry leben.03.02.2024 | 15:06 min
Die vernachlässigte Front der Medizin
Seltene Krankheiten, von denen es weltweit über 7.000 gibt, treffen zusammen schätzungsweise sechs bis acht Prozent der globalen Bevölkerung. Trotz dieser signifikanten Zahl bleibt die Forschung in diesem Bereich oft hinter den großen Feldern, wie der Krebsforschung, zurück.
Pharmaunternehmen tendieren dazu, ihre Ressourcen auf jene Bereiche zu konzentrieren, die das größte finanzielle Rückflusspotenzial bieten. Die Entwicklung von Therapien für seltene Krankheiten erscheint aus dieser Perspektive weniger attraktiv, da die Zielgruppen klein sind und die Forschung komplex und kostspielig sein kann.
Fortschritte trotz Hürden
Trotz der Schwierigkeiten gibt es Hoffnung. Die Forschung hat bemerkenswerte Fortschritte bei der Entwicklung von Therapien für einige seltene Krankheiten gemacht. Neue Technologien, wie die Gentechnik und innovative Medikamente könnten in Zukunft potenzielle Behandlungsmöglichkeiten bieten. Auch haben Gentherapien, die darauf abzielen, fehlende oder defekte Gene zu ersetzen oder zu reparieren, ein großes Potenzial, den Verlauf der seltenen Krankheit zu ändern.
Darüber hinaus gibt es gesetzliche Initiativen in den Vereinigten Staaten (Orphan Drug Act) und ähnliche Gesetze in Europa, die die Entwicklung von Medikamenten für seltene Krankheiten fördern, indem sie Anreize für Pharmaunternehmen schaffen. Diese Maßnahmen haben zu einer Zunahme der Zulassungen neuer Medikamente geführt. Das weckt die Hoffnung auch für Familie Burchelt und viele andere betroffene Patienten und ihre Familien im Kampf gegen die seltenen Krankheiten.
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