Erstmals Frauen mit Stimmrecht bei großer Bischofsversammlung in Rom
Quelle: dpa
Wie vieles im Pontifikat von
Papst Franziskus kommt die Entscheidung aus dem Vatikan heute überraschend. Zwar deutete sich seit langer Zeit an, dass Papst Franziskus einen Segen für Paare, die nicht zu 100 Prozent dem katholischen Eheideal entsprechen, für möglich hält. Doch bisher gab es keine belastbaren offiziellen vatikanischen Aussagen dazu, lediglich Antworten des Kirchenoberhaupts in Interviews oder Anspielungen in Predigten und Ansprachen wie beim Weltjugendtag im Sommer in Lissabon.
Damals sprach Franziskus von der "Kirche für alle", die niemanden ausschließen dürfe. Anfang Oktober gab es dann eine erste Stellungnahme der obersten vatikanischen Glaubensbehörde, wonach die Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren unter bestimmten Bedingungen möglich sei. Mit dem Dokument, das heute vom Glaubensdikasterium mit Billigung des Papstes veröffentlicht wurde, ist es nun offiziell.
Keine Änderung bei der Lehre zur Homosexualität
Das ist ein großer Schritt für die katholische Kirche. Noch 2021 hatte dieselbe Behörde mit Blick auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften festgestellt, dass eine Segnung "nicht erlaubt" sei. Jetzt kommt sie zu einem anderen Urteil. Sie möchte damit dem seelsorglichen Ansatz, den Papst Franziskus vertritt, Rechnung tragen.
In der Lehre aber zur Homosexualität ändert sich nichts. Ausdrücklich heißt es in dem neuen Dokument, dass ein Segen für "Paare in irregulären Situationen und gleichgeschlechtliche Paare" fortan möglich sei, "ohne deren Status offiziell zu konvalidieren oder die beständige Lehre der Kirche über die Ehe in irgendeiner Weise zu verändern".
Vatikan: Segnung Homosexueller soll nicht im Gottesdienst stattfinden
Zudem möchte der Vatikan alles verhindern, was eine Verwechslung mit dem klassischen Sakrament der Ehe begünstigt. Daher soll es keine Ritualisierung des Segens geben und er soll möglichst nicht im Rahmen eines Gottesdienstes stattfinden. Das läuft der gängigen Praxis in Deutschland und vielen anderen Ländern entgegen.
In Deutschland werden Segensfeiern für homosexuelle Paare in vielen Gemeinden heute schon praktiziert, finden aber bisher in einer kirchenrechtlichen Grauzone statt.21.09.2023 | 1:59 min
Die Deutsche Bischofskonferenz ist gerade dabei, eine Handreichung für solche Feiern zu erarbeiten. Ein solches Vorgehen ist durch das neue Papier nicht gedeckt, auch wenn es eine Öffnung und Kehrtwende darstellt; weitere Spannungen mit Rom sind vorprogrammiert.
Katholische Kirche versucht sich an Spagat
Für viele Betroffene dürfte das wie ein Segen zweiter Klasse wirken. Aus der Perspektive des Vatikans ist es der Versuch, einen mehrfachen Spagat hinzubekommen: Einerseits auf der Ebene der Lehre und des Kirchenrechts. Hier drohen die konservativen Kreise bereits bei kleinsten Änderungen mit einem Schisma, zugleich
verlassen weltweit viele Menschen die Kirche, weil sie diese als ausgrenzend erfahren.
Andererseits muss der Papst versuchen, die Kirche global zusammenzuhalten. Wenn er sich beim Thema Homosexualität positioniert, muss dies sowohl in den westlichen Ländern Bestand haben als auch etwa in Osteuropa oder afrikanischen Ländern. Hier agiert die Kirche in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten.
Kirchengeschichte: Änderung der Praxis oft vor Reform der Lehre
Mit der heutigen Entscheidung ist eine Tür geöffnet, die lange Zeit verschlossen war. Wie schon in anderen Kontexten geht Franziskus in kleinen Schritten voran. Er denkt zunächst nicht an eine Änderung der Lehre, sondern möchte pastorale Lösungen. Die Seelsorger vor Ort sollen entscheiden und die Segnungen der konkreten Situation angepasst gestalten.
Die Kirchengeschichte lehrt, dass oft eine Änderung der Praxis einer Reform der Lehre vorausging. Diese Möglichkeit ist mit dem heutigen Tag gegeben. Allerdings ist es noch ein langer Weg, bis wiederverheiratete Geschiedene oder gleichgeschlechtliche Paare offiziell im Rahmen eines Gottesdienstes einen Segen für ihre Beziehung erhalten.
Die Austrittszahlen zeigen: Die katholische Kirche ist im freien Fall. Nur wenn sie Vertrauen zurückgewinnt, die Kluft zwischen Leben und Lehre schließt, hat sie eine Chance.
von Jürgen Erbacher