Interview
Mikroplastik auf dem Teller:Wie Reifenabrieb uns krank machen kann
von Christina-Maria Pfersdorf und Michael Strompen
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Ein Satz Reifen verliert im Laufe seines Lebens über vier Kilo an Gewicht. Das sind allein in Europa 500.000 Tonnen Mikroplastik im Jahr, die in der Umwelt landen. Und im Salat.
Ein Satz Reifen verliert im Laufe seines Lebens viel Gewicht. Was nicht viele wissen: Reifenabrieb ist die größte Quelle für Mikroplastik - und eine Gesundheitsgefahr.12.11.2024 | 16:18 min
Was die wenigsten wissen: Reifenabrieb ist die größte Quelle für Mikroplastik. Wissenschaftler fanden Reifenpartikel sogar im Eis der Arktis. Sie fanden sie in der Wüste. Ein Viertel des Mikroplastiks im Meer, sagen Studien, kommt vom Reifenabrieb. Doch das ist nicht alles:
Gespräch mit Umweltwissenschaftler Thilo Hofmann12.11.2024 | 4:07 min
Mikroplastik im Salat entdeckt
Thilo Hofmann und sein Team von der Universität Wien wollten wissen: Lassen sich chemische Zusatzstoffe aus Reifen, sogenannte Additive, sogar in Salat aus dem Supermarkt nachweisen? Der Verdacht: Wenn Reifenpartikel, etwa aus Klärschlamm, auf Ackerflächen landen, wäscht der Regen die Zusatzstoffe aus - und die Chemikalien wandern direkt über die Wurzeln ins Gemüse.
Ergebnis der Studie: In zwölf von 15 Salaten wurden die Wissenschaftler fündig. So wiesen die Forscher beispielsweise 6PPD nach, eine Chemikalie spezifisch aus Autoreifen, die etwa zu Fischsterben führt.
Kunststoffe bestehen aus Polymeren und Zusatzstoffen, sogenannten Additiven. Dadurch erlangt das Plastik erst eine bestimmte Eigenschaft beziehungsweise erhält seine Funktion. Additive können beispielsweise Weichmacher, verschiedene Stabilisatoren oder Flammschutzmittel sein.
Beim Autoreifen geht es vor allem darum, Leistung und Haltbarkeit zu verbessern. Antioxydanzien, Antiozonisierungsmittel, Vulkanisierungsmittel, Antialterungsmittel sind nur einige der Beispiele für chemische Additive, die sich im Reifen finden.
Beim Autoreifen geht es vor allem darum, Leistung und Haltbarkeit zu verbessern. Antioxydanzien, Antiozonisierungsmittel, Vulkanisierungsmittel, Antialterungsmittel sind nur einige der Beispiele für chemische Additive, die sich im Reifen finden.
Die Chemikerin Verena Pichler erforscht seit Jahren, wie Mikroplastik auf den Menschen wirkt. "Wir wissen, dass diese Partikel aufgenommen werden, sich in Fett oder Arterien ablagern können, es vermehrt Entzündungen gibt." Pichler vermutet sogar, dass Mikroplastik die Entstehung von Metastasen begünstigen könnte. In ersten Laborstudien fand sie tatsächlich entsprechende Hinweise.
Mit Bäumen und neuer Technik gegen Mikroplastik - für ein besseres Klima.04.09.2024 | 29:49 min
Mikroplastik aus Reifen besonders gesundheitsgefährdend
Reifenabrieb ist dabei ein besonders gefährliches Mikroplastik.
Umweltwissenschaftler Hofmann vermutet, dass viele giftige Substanzen im Reifen zudem unbekannt bleiben. Denn die Reifenindustrie mache aus ihren Mischungen ein großes Geheimnis.
Was geschieht mit Mikroplastikpartikeln im Körper und welche Auswirkungen haben die mikroskopischen Fremdkörper? Ist Mikroplastik gefährlich oder ist alles nur halb so wild?23.02.2023 | 11:14 min
Reifenindustrie gegen mehr Transparenz
Der Verband der Reifenindustrie (ETRTO/ETRMA) erklärt Frontal, weitere Forschung zu Risiken zu unterstützen. Mehr Transparenz sieht er kritisch:
Das Problem Reifenabrieb rückt dabei nun auch in den Fokus der Politik. Die Vereinten Nationen (UN) erarbeiten aktuell ein Grenzwert für Reifenabrieb, der dann auch in der EU gelten soll.
Laut Matthias Rillig, Biologe an der FU Berlin, gibt es weltweit keinen Ort mehr, der nicht mit Plastik belastet ist. Er untersucht, wie die winzigen Partikel Prozesse im Boden beeinflussen.23.02.2023 | 6:17 min
Lobby-Einfluss ist formal garantiert
Bei einem der Treffen der zuständigen Arbeitsgruppe durfte ein Frontal-Team dabei sein. Auffällig: Neben Botschaftern und Experten aus nationalen Behörden gaben Vertreter der Automobil- und Reifenindustrie den Ton an. Der Einfluss der Lobby ist sogar formal garantiert. So liegt das Sekretariat der UN-Arbeitsgruppe beim der ETRTO, der die großen Reifenmarken vertritt.
Der Verband steuert den ganzen Prozess. Er hat das Messverfahren für den Abrieb entwickelt. Und den anschließenden Praxistest organisiert und bezahlt.
Der Generalsekretär der Lobby, Nicolas de Mahieu, spricht im Frontal-Interview von einer "Win-Win-Situation" für beide Seiten: "Für die Regulierungsbehörden besteht sie darin, eine wirksame Regelung zu haben, die gut für Gesundheit und die Umwelt ist und auch die Sicherheit verbessert. Und für die Industrie geht es natürlich darum zu prüfen, ob es nachhaltig und bezahlbar ist", sagt er.
Als Mikroplastik bezeichnet man Kunststoffteilchen, die kleiner als fünf Millimeter sind und auf vielfältigen Wegen in die Umwelt gelangen.
Primäres Mikroplastik Typ A kategorisiert und betrachtet Mikroplastik als Chemikalie. Diese Kategorie umfasst die Arten, die direkt zu Produkten (z. B. Körperpflegeprodukte, Putzmittel, Lacke) zugesetzt werden. Dieser Anteil wird bereits häufig durch wasserlösliche Polymere ("flüssiges Mikroplastik") ersetzt. Produkte werden dann häufig mit dem Zusatz "Mikroplastikfrei" oder "Ohne Mikroplastik" beworben.
Die Kategorie primäres Mikroplastik Typ B umfasst Kunststoffpartikel, die bei der Nutzung von Kunststoffprodukten entstehen und direkt (ohne Umwege) als Mikroplastik in die Umwelt eingetragen werden. Beispiele sind Reifenabrieb oder Kleidungsfasern von Synthetik-Kleidung.
Sekundäres Mikroplastik umfasst alle Mikroplastikpartikel, die durch langsamen Zerfall großer Plastikteile beziehungsweise Plastikmüll in der Umwelt entstehen. Dies kann durch jegliche Arten äußerer Einflüsse passieren, z. B. durch UV-Strahlung, Bakterien oder auch durch Reibung.
Wie streng werden die Grenzwerte gefasst?
Ebenfalls in der Arbeitsgruppe ist Philipp Eichler, ein Experte vom deutschen Umweltbundesamt. Er sieht das Verfahren kritisch: "Wir kriegen die Informationen von der Industrie. Wir kriegen aber nur das, was wir brauchen, um einen Schritt weiterzukommen."
Eichler hätte beispielsweise einen Grenzwert pro Fahrzeug befürwortet. Stattdessen wird es einen Grenzwert geben, der den Abrieb pro Tonne Fahrzeuggewicht bemisst. Da Autos immer schwerer werden, kann das zum Problem werden. "Da ging kein Weg an der Ausrichtung und Position der Industrie vorbei", konstatiert Eichler.
Der Grenzwert für Reifenabrieb soll 2025 beschlossen werden. Ob er streng genug wird, daran wollen nicht alle der Beteiligten glauben.
Quelle: ZDF
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