Interview
Sexarbeiterinnen in NS-Zeit:Drangsaliert, deportiert - und vergessen
von Martin Niessen
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Tausende Sexarbeiterinnen wurden von den Nazis zwangssterilisiert, deportiert, ermordet. Nun soll in Hamburg ein "Stolperbordstein" an ihr Schicksal erinnert werden.
Hamburger Herbertstraße 1934: Nach ihrer Machtübernahme schränkten die Nationalsozialisten die Bewegungsfreiheit für Sexarbeiterinnen stark ein.
Quelle: Stiftung Günter Zint
Kaum jemand geht vorbei, ohne ein Foto zu machen. Die Hamburger Herbertstraße mit den bunten Sichtschutzwänden an den Eingängen ist bei Touristen aus aller Welt als Fotomotiv nicht minder beliebt als Elbphilharmonie, Michel oder Davidwache.
Nur die wenigsten kennen allerdings die dunkle Geschichte der Metallwände zu beiden Seiten der bekannten Bordellstraße im Stadtteil St. Pauli: Sie wurden während der NS-Herrschaft errichtet und markierten eine Art Ghetto für Sexarbeiterinnen.
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Schicksal von Sexarbeiterinnen in NS-Zeit "blinder Fleck"
Angelehnt an die bekannten "Stolpersteine" des Künstlers Gunter Demnig, die an von den Nazis deportierte und ermordete Menschen erinnern sollen, wird nun ein "Stolperbordstein" an das Leid von Sexarbeiterinnen im Dritten Reich erinnern.
Auf Initiative der St. Pauli-Kirche, des Vereins Lebendiges Kulturerbe St. Pauli e.V. und der Historikerin Eva Decker wird dort an diesem Freitag ein Messing-Kantstein verlegt.
Zeitgleich startet eine Crowdfunding-Aktion, mit der Mittel für Forschungen zu diesem bislang wenig beleuchteten Kapitel der Nazizeit gesammelt werden sollen. "Nicht länger verblendet und vergessen" ist das Motto des Projekts, das die Bezirksversammlung Mitte in Hamburg mit großer Mehrheit beschlossen und auch gleich 5.000 Euro für den Gedenkstein bereitgestellt hatte.
NS-Zeit: Sexarbeit aus Öffentlichkeit verbannt
Hamburgs Gauleitung hatte die Sichtschutzwände 1933 errichten lassen, nicht etwa, um die dahinter arbeitenden Sexarbeiterinnen zu schützen, sondern die Bevölkerung vor dieser "Schmach der Menschheit", wie Adolf Hitler Prostitution 1925 in "Mein Kampf" bezeichnete. Er machte Sexarbeit für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten verantwortlich, die er als "sichtbare Verfallszeichen eines Volkes" sah.
Beliebtes Bildmotiv von Hamburg-Touristen: Sichtblende zur Herbertstraße in St. Pauli.
Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde Prostitution allerdings nicht generell verboten. Damit sie aber aus der Öffentlichkeit verschwindet, wurde eine Art staatlich kontrolliertes Bordellsystem eingeführt, mit Wehrmachtsbordellen etwa, Bordellen für Fremdarbeiter und in Konzentrationslagern wie Auschwitz oder Buchenwald.
Zehntausende Frauen zu Sexarbeit gezwungen
Zehntausende Frauen mussten nach Schätzungen von Historiker*innen Sex-Zwangsarbeit verrichten, wurden schikaniert, drangsaliert, zwangssterilisiert und viele in Lagern ermordet. Wie Obdachlose oder Drogenabhängige galten sie als "asoziale Elemente" und "Schädlinge", die es "auszumerzen" gelte.
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Auch in der Hamburger Herbertstraße gab es weiter das, was im Nazi-Jargon "Ausübung gewerbsmäßiger Unzucht" hieß, ab 1933 aber eben hinter Sichtblenden versteckt.
Für viele Frauen blieb es nicht bei Stigmatisierung und Schikane durch weitreichende Ausgangsbeschränkungen, wöchentliche Gesundheitsuntersuchungen und willkürliche Polizeikontrollen. Sie fanden in den Konzentrationslagern Neuengamme oder Ravensbrück den Tod, manche durch die Folgen einer Zwangssterilisierung oder von Verzweiflung in den Selbstmord getrieben.
Nicht länger verblendet und vergessen
Täglich würden Besuchergruppen durch den Kiez geführt, auch an der Herbertstraße entlang, sagt Pastor Sieghard Wilm von der St. Pauli-Kirche. Die Straße löse "sichtlich widersprüchliche Emotionen" aus - ein Ort, der gleichermaßen anziehe und abstoße.
Das wird sich nun ändern. Wo jedes Jahr Tausende Touristen Fotos machen, wird der aus Messing gefertigte Stolperbordstein dann gut sichtbar an das Leid der Sexarbeiterinnen während der NS-Zeit erinnern.
Martin Niessen ist Redakteur im ZDF-Landesstudio in Hamburg.
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